Einmalig und ungewöhnlich
Herr Seidel, Sie haben ursprünglich Kernphysik studiert, aber das PSI hat seinen einzigen Forschungsreaktor 2012 stillgelegt. Was also tun Sie hier?
Mike Seidel: Die Kernenergie ist ja nur eine Anwendung der Kernphysik. Dort geht es insgesamt um Atomkerne, die aus Neutronen und Protonen bestehen. Um Kernphysik oder auch Teilchenphysik zu betreiben, benötigt man Teilchenbeschleuniger, und so bin ich zur Beschleunigerphysik gekommen. Mein Fachbereich ist dafür zuständig, die verschiedenen Beschleuniger des PSI zu betreiben und zu entwickeln.
Hat jede der fünf PSI-Grossforschungsanlagen einen eigenen Teilchenbeschleuniger?
Die SLS und der SwissFEL haben jeweils eigene Beschleuniger. Die SLS ist ein Synchrotron, sie hat also einen ringförmigen Beschleuniger, der Elektronen auf fast Lichtgeschwindigkeit bringt; diese wiederum senden Röntgenlicht aus, das an den verschiedenen Experimentierstationen für ganz unterschiedliche Untersuchungen genutzt wird. Auch am SwissFEL werden Elektronen zum gleichen Zweck beschleunigt, aber auf gerader Strecke mit einem Linearbeschleuniger, kurz Linac genannt. Und dann haben wir am PSI noch unsere HIPA-Anlage. Das steht für «high intensity proton accelerator», hier werden Protonen in Zyklotrons beschleunigt. Diese werden dann genutzt, um gezielt Neutronen und Myonen für die Grossforschungsanlagen SINQ, SµS und CHRISP zu erzeugen. Somit betreut unser Fachbereich drei grosse Beschleunigeranlagen, an die fünf Grossforschungsanlagen gekoppelt sind. Dazu kommt die Anlage PROSCAN, die Protonenstrahlen für die Krebstherapie zur Verfügung stellt.
Und jeder dieser drei grossen Beschleuniger ist weltweit einmalig?
Ja, es sind alles Unikate. Wirklich ungewöhnlich ist aber auch, dass wir am PSI beides haben: sowohl Elektronen- als auch Protonenanlagen. Viele Institute weltweit konzentrieren sich auf einen Typ von Beschleuniger. Elektronen und Protonen verhalten sich nämlich in Beschleunigern ausgesprochen unterschiedlich. Das hängt damit zusammen, dass Protonen zweitausend Mal schwerer sind als Elektronen. Im Gegensatz zu Elektronen senden sie kaum Synchrotronstrahlung aus. In der Praxis folgt daraus beispielsweise, dass die Magnete von HIPA wesentlich grösser sind als die von SLS oder SwissFEL. Andererseits ist das bei der SLS benötigte Vakuum etwa tausendfach besser als das bei HIPA.
Ist es nicht schwierig, so gänzlich verschiedene Anlagen an einem Ort zu betreiben?
Die Anforderungen sind unterschiedlich, aber bei der Technik ist vieles grundsätzlich ähnlich. Wir benutzen überall Magnete, um die Teilchen zu lenken und Hochfrequenzsysteme, um sie zu beschleunigen. Ebenso benötigen wir bei allen Anlagen Vakuumtechnik und Kontrollsysteme sowie Berechnungen, um das Verhalten der beschleunigten Teilchen zu modellieren.
Ergeben sich daraus also auch Vorteile?
Ja, wir schaffen Synergien. Wir haben eine übergeordnete Sektion Vakuum. Und eine Sektion Magnete, die mit handtellerkleinen bis elefantengrossen Magneten umgehen kann. Es gibt einen gemeinsamen Kontrollraum für alle Beschleuniger. Routinemässig läuft dort der Betrieb weitgehend automatisiert. Aber für die Optimierung müssen die Operateurinnen und Operateure über enorme Detailkenntnisse verfügen, beispielsweise um bei einem Problem die Ursache festzustellen und zu helfen, die Anlage wieder in Gang zu bringen.
Die Arbeit in Ihrem Fachbereich wird also nie eintönig?
Ich denke nicht. Wir sind in der Schweiz das einzige nationale Institut mit solchen Anlagen und stellen sie landesweit und auch international Forschenden zur Verfügung. Den komplexen Betrieb kontinuierlich zu verbessern und um neue Anwendungsmöglichkeiten zu erweitern, bleibt eine ständige Herausforderung für uns. Es gibt immer wieder neue Experimente, die man wirklich nur bei uns durchführen kann, und das verliert nie seinen Reiz.