Unterschätzte Vielfalt an Giftstoffen aus Cyanobakterien
Sie sind mehr als drei Milliarden Jahre alt. Und sie haben als erste Lebewesen auf der Erde das Sonnenlicht als Energiequelle erschlossen und also quasi die Photosynthese erfunden. «Cyanobakterien finden sich auch in nährstoffarmen Gewässern zurecht – und kommen überall auf der Welt vor», sagt Elisabeth Janssen, Forschungsgruppenleiterin an der Abteilung Umweltchemie des Wasserforschungsinstituts Eawag.
Tragischer Vorfall
Dass die oft auch als Blaualgen bezeichneten Winzlinge giftige Substanzen herstellen, weiss die Wissenschaft schon länger. Seit etwa zwanzig Jahren erstarkt auch das politisch-gesellschaftliche Interesse an den Cyanobakterien. Wenn sie sich in einem Gewässer schlagartig vermehren und – wie etwa die Burgunderblutalge (Planktothrix rubescens) – eine Blüte auslösen, wird vom Baden dringend abgeraten. Und wenn Hunde vom trüben Wasser mit bestimmten Cyanobakterien trinken, können sie sogar daran sterben.
Bisher hat die Fachwelt der Toxikologie ihre grösste Aufmerksamkeit einer bestimmten Klasse von Giftstoffen gewidmet: den sogenannten Microcystinen. «Dies geht auf einen besonders schweren und tragischen Vorfall im Jahr 1996 zurück, der sich in der brasilianischen Stadt Caruaru ereignete», schreiben die Forschenden um Janssen in einem soeben veröffentlichten Fachbeitrag. Damals fiel die lokale Wasserversorgung aus und für das Spital wurde per Lastwagen Wasser aus einem nahegelegenen Reservoir herangekarrt. Dass dieses Wasser Microcystine enthielt, wurde erst klar, nachdem 60 Dialyse-Patientinnen und -Patienten gestorben waren.
Ganzer Strauss von Stoffwechselprodukten
Daraufhin hat die Weltgesundheitsorganisation WHO Richtlinien für Microcystine erlassen. Im Jahr 2021 kamen drei weitere Giftstoffe aus den Cyanobakterien hinzu. Doch damit ist nur ein winziger Bruchteil der Substanzen geregelt, denn: «Cyanobakterien produzieren einen ganzen Strauss von Sekundärmetaboliten», sagt Janssen. Dabei sind die ökotoxikologischen Risiken dieser Substanzenvielfalt noch weitgehend unbekannt. Nun sorgen die Resultate aus Versuchen mit Zebrafischlarven, die das Team um Janssen und Colette vom Berg durchgeführt hat, für etwas mehr Klarheit.
«Wir haben Zellextrakte von zwei verschiedenen Cyanobakterien-Stämmen der Gattung Microcystis aus Brasilien verwendet», sagt Mariana de Almeida Torres, Erstautorin der wissenschaftlichen Publikation und Stipendiatin des Eawag-Partnerschaftsprogramms für Entwicklungsländer (siehe Kasten). Ein Stamm wurde aus einem Naturreservat im Amazonas-Regenwald isoliert. Er stellt Microcystine her – im Unterschied zum anderen Stamm, der aus einer Kläranlage in Rio de Janeiro isoliert worden ist.
Ödeme im Herzbereich
Tatsächlich erwies sich der Microcystin-produzierende Stamm als doppelt so giftig. Ein halbes Mikrogramm extrahierte Biomasse von Cyanobakterien pro Milliliter genügte, um die Hälfte der Zebrafischlarven innerhalb eines Tages abzutöten. «Eine solche Konzentration findet man auch während einer Massenvermehrung von Cyanobakterien, sogenannten Blüten, vor», sagt Janssen. Obwohl der andere Stamm keinen der auf der WHO-Richtlinie aufgeführten Giftstoffe enthielt, waren aber auch diese Cyanobakterien giftig: Sie führten bei einer Konzentration von einem Mikrogramm Biomasse pro Milliliter zum Tod der Hälfte der Zebrafischlarven. Als die Forschenden die Extrakte in verschiedene chemische Fraktionen aufteilten, stellten sie fest, dass zahlreiche Substanzen ihren eigenen Beitrag zur Toxizität leisteten. Und dass sie oft nicht gleich zum Tod der Larven führten, deren Entwicklung aber stark beeinträchtigten, etwa durch Ödeme im Herzbereich.
Genau wie die Microcystine haben auch diese anderen Giftstoffklassen exotische Namen. Sie heissen Cyanopeptoline, Nostoginine, Microginine und Micropeptine – und gehören alle zum chemischen Universum aus Stoffwechselprodukten der Cyanobakterien, das die Wissenschaft erst allmählich erschliesst. «Bisher haben wir über 2400 Stoffe in einer öffentlich einsehbaren Datenbank zusammengetragen», sagt Janssen, die das sogenannte CyanoMetDB-Projekt koordiniert. «Und jedes Jahr kommen etwa 100 neue Einträge hinzu.»
Problematik gewinnt mit der Klimaerwärmung an Bedeutung
Doch wieso produzieren Cyanobakterien Giftstoffe? «Irgendwie müssen sie daraus einen Vorteil ziehen, denn die Herstellung dieser Substanzen kostet sie viel Energie», sagt Janssen. Allerdings ist die Natur dieses Vorteils noch nicht geklärt, auch wenn es viele Theorien gibt, etwa, dass die Winzlinge die Substanzen als Signalmoleküle nutzen und auf diese Weise chemisch miteinander kommunizieren, oder dass sie sich mit den Giftstoffen vor Fressfeinden schützen.
Auf jeden Fall dürfte das Thema in Zukunft an Bedeutung gewinnen: Aufgrund des wärmer werdenden Klimas ist auch in Schweizer Seen mit öfters auftretenden Cyanobakterien-Blüten zu rechnen. Deshalb ist es Janssen ein Anliegen, das Bewusstsein für die Problematik zu schärfen. Ausserdem kommt für die Umweltchemikerin hinzu: «Im Vergleich mit Schadstoffen aus der Industrie sind die Giftstoffe aus Cyanobakterien schwieriger zu fassen. Denn es sind Stoffwechselprodukte von lebenden Organismen, sie häufen sich an, wenn diese sich vermehren, und wir können die Quelle nicht so einfach abstellen.»
Eawag Partnerschaftsprogramm
Das Eawag Partnership Program (EPP) zielt darauf ab, die wissenschaftliche Kapazität in strukturschwachen Ländern zu stärken. Es bietet Doktorierenden, die sich mit umweltrelevanten Themen wie etwa Wasserknappheit, Umweltverschmutzung oder Verlust der biologischen Vielfalt befassen, die Gelegenheit, sich während eines kürzeren Forschungsaufenthalts an der Eawag wissenschaftlich auszubilden und auszutauschen.
Die EPP-Stipendiatin Mariana de Almeida Torres war von Januar bis Juli 2021 in den Forschungsgruppen von Elisabeth Janssen und von Colette vom Berg integriert. Auch nach ihrem Stipendium haben die Wissenschaftlerinnen ihre Zusammenarbeit aufrechterhalten und im Jahr danach einen weiteren sechsmonatigen Besuch realisiert. Über ihre Arbeiten an der Schnittstelle zwischen Umweltchemie und -toxikologie sagt Torres: «Es war eine sehr bereichernde und wertvolle Erfahrung! Mein Aufenthalt an der Eawag hat mein Leben verändert, nicht nur aus beruflicher Sicht, sondern auch auf persönlicher Ebene.» Auch ihre beiden Betreuerinnen äussern sich begeistert. «Für uns war diese Zusammenarbeit ein Riesengewinn – und ein echtes Erfolgserlebnis», sagt Janssen.