Einfache Fragen – schwierige Antworten
Man stelle sich eine Gruppe von Leuten vor. Einige kennen sich, andere haben noch nie miteinander kommuniziert. Man verbindet je zwei Personen, die sich kennen, macht aber keine Verbindungen zwischen Fremden. So entsteht ein Netzwerk, von den Mathematikern «Graph» genannt. Soziale Netzwerke wie Facebook können als Graph betrachtet werden. Die mathematische Theorie der Graphen ist ein Teilbereich der Kombinatorik und das Spezialgebiet von Oliver Janzer. Der 27-jährige Wissenschaftler arbeitet seit Herbst 2020 als ETH Fellow in der Gruppe von Mathematikprofessor Benny Sudakov.
«Wir befassen uns mit bestimmten Problemen in der Graphentheorie», erzählt Janzer. So kann man sich fragen, welches die maximale Anzahl von Personen ist, die miteinander verbunden werden können, wenn einige Muster verboten sind, also wenn beispielsweise niemand alle anderen kennen darf. «Es ist typisch für unser Gebiet, dass die Fragestellungen ziemlich einfach sind im Vergleich zu anderen Bereichen der Mathematik», sagt Janzer: «Aber irgendwie sind die Lösungen nicht immer ganz einfach.» Eine krasse Untertreibung des schon mehrfach ausgezeichneten Nachwuchsforschers. So widersetzte sich ein bereits 1975 aufgestelltes Problem bisher einer Lösung. Erst jetzt gelang Janzer und Sudakov dank neuer Ideen der Durchbruch.
Der Forscher übersetzt die entsprechende Frage von mathematischen in menschliche Begriffe: Wie viele Paare können sich in einer Gruppe von n Leuten kennen, wenn es keine Untergruppen gibt, in denen jede Person genau k andere Leute kennt, wobei n irgendeiner ganzen Zahl entspricht und k grösser oder gleich der Zahl Drei ist. «Bei der Erklärung dieses Problems musste ich ein wenig schummeln, damit es leichter zu verstehen ist», gibt der Mathematiker zu. Die Lösung von Janzer und Sudakov ist jedoch exakt und löste in der Fachwelt ein grosses Echo aus, als sie Ende April 2022 als Preprint veröffentlicht wurde.
Von Budapest nach Cambridge
Aufgewachsen ist Oliver Janzer in Budapest. «Ich hatte Glück», sagt er, denn in Ungarn gibt es eine Schule, in der Mathematik besonders intensiv gelehrt wird. «Dort hatte ich Klassenkameraden mit ähnlichen Interessen. Mathematik war unser Lieblingsfach, und wir hatten einige grossartige Lehrer», erzählt der Forscher. Schon früh nahm er erfolgreich an einem nationalen Mathematikwettbewerb teil. Als Teenager gewann er an der Internationalen Mathematik-Olympiade eine Bronze- und zwei Silbermedaillen. Dies ebnete ihm den Weg für ein Mathematikstudium an der Universität Cambridge in Grossbritannien. «Das war eine grosse Umstellung», erinnert sich Janzer: «Denn die Mathematik an der Universität unterscheidet sich stark von derjenigen an der Schule oder an Wettbewerben.»
Dem Studenten gefiel die Materie weiterhin, auch als er seine Doktorarbeit in Cambridge in Angriff nahm: «Wiederum ein Wechsel, denn nun musste ich nicht nur Dinge lernen, sondern eigene Forschung betreiben.» Schnell erzielte er publizierbare Ergebnisse, welche die Fachleute interessierten, so auch ETH-Professor Benny Sudakov. «Ich erhielt eine E-Mail von ihm, in der er mich nach meinen Plänen nach dem Doktorat fragte», erzählt Janzer. Er entschloss sich, mit Sudakov als Mentor eine Bewerbung für eine Postdoctoral Fellowship in Zürich einzureichen – ein ETH-Programm, das sich an Nachwuchsforschende richtet, die sich schon früh in ihrer Karriere ausgezeichnet haben. «Ich bin sehr glücklich, dass es geklappt hat», sagt Janzer, denn die Erfolgsrate für Bewerbungen beträgt nur rund 25 Prozent.
Preisgeld fürs Widerlegen einer Vermutung
Der ungarische Wissenschaftler Paul Erdős, einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts, hat wahrscheinlich eine Schlüsselrolle in Janzers bisheriger Karriere gespielt. Erdős stellte zahlreiche Sätze und Vermutungen in der Kombinatorik auf. Eine dieser Vermutungen konnte Janzer im vergangenen Jahr widerlegen. «Das ist eine weitere Arbeit, auf die ich stolz bin», sagt er. Denn Erdős hatte ein Preisgeld für die Lösung des 1981 formulierten Problems ausgeschrieben: 250 Dollar für einen Beweis oder 500 Dollar für eine Widerlegung der Vermutung.
Die Ergebnisse in Janzers Fachgebiet lassen sich vor allem in der Mathematik selbst, aber kaum praktisch anwenden, obwohl es Ausnahmen gibt. «Zum Beispiel das Aufstellen des Spielplans einer Fussballliga», erklärt der Mathematiker: «Hat man 20 Mannschaften in einer Liga, ist es unwahrscheinlich, dass man einfach von Hand einen geeigneten Spielplan entwerfen kann. Unser Bereich hingegen liefert Techniken dazu.» Oft gebe es Anwendungen nicht für bestimmte Resultate, sondern für die zugrundeliegenden Ideen. Ein Beispiel sind sogenannte randomisierte Techniken, die für die Lösung eines rein kombinatorischen Problems entwickelt wurden, und zu randomisierten Algorithmen führten, welche heute in der Computerwissenschaft allgegenwärtig sind. Auch das Ergebnis der neuesten Arbeit von Janzer und Sudakov lässt sich auf diesem Gebiet anwenden und zwar für das maschinelle Lernen.
um voranzukommen.»
«Unsere Studien sind jedoch selten durch Anwendungen motiviert», sagt der Mathematiker. Wie wertvoll eine Arbeit ist, wird in der Regel dadurch bestimmt, wie gut sie die Forschung selbst weiterbringt, wie alt das Problem ist, und wie viele andere sich bereits damit befasst haben. «Manchmal wäre es vielleicht schön zu sehen, dass meine Forschung in der realen Welt etwas bewirkt, aber ich werde durch andere Aspekte genug entschädigt», meint Janzer und betont, wie schön das Fachgebiet sei. Habe man zudem in der reinen Mathematik etwas eindeutig bewiesen, sei dies noch in 100 oder 1000 Jahren gültig. «Und es ist hübsch, dass der eigene Name immer mit diesem Theorem verbunden sein wird.»
Für seine Arbeit braucht er nur Bleistift und Papier. Den Computer benutzt er zum Lesen und Schreiben von Fachartikeln. Im Durchschnitt erscheinen in seinem Fachgebiet täglich rund 15 neue Publikationen, auf die er oft schon beim Frühstück einen ersten Blick wirft. Später in seinem Büro im obersten Stockwerk des ETH-Hauptgebäudes studiert er die Fachliteratur weiter und arbeitet an der Lösung der mathematischen Probleme. «Oft braucht man dabei eine neue Perspektive, um voranzukommen», erzählt er: «Und manchmal hilft es, wenn man eine etwas andere Frage stellt – eine leichtere oder eine allgemeinere und schwierigere.» Die siebenköpfige Forschungsgruppe diskutiert nicht nur über Mathematik, sondern auch über das Geschehen in der Welt. «Ich interessiere mich für Politik und verfolge die News», sagt Janzer: «Ungarn hat eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine und dieser Krieg ist wirklich sehr traurig.»
Sport und ab und zu ein Computerspiel
Als Ausgleich zur Gedankenarbeit treibt der Mathematiker häufig Sport. «Ich renne gern, es hilft mir, mich zu entspannen und ist offensichtlich gesund», sagt er: «Ich schaue auch oft Filme und unterhalte mich mit Freunden.» Dass er zudem Computerspiele mag, gibt er offen zu, nachdem er in einem Zeitungsartikel gelesen hat, dass einer der berühmtesten Mathematiker der Gegenwart, Terence Tao, während seines Studiums viel Zeit mit dem Computerspiel «Civilization» verbrachte. «Ich war glücklich zu erfahren, dass ich nicht der einzige bin und man immer noch ein hervorragender Mathematiker sein kann, auch wenn man dieses Game spielt», so Janzer.
Noch bis August dauert seine ETH Fellowship. Dann wird er nach Cambridge zurückkehren, um eine weitere, vierjährige Forschungsposition anzutreten. Danach ist er offen für alles. In Cambridge macht zurzeit sein jüngerer Bruder eine Doktorarbeit ebenfalls als Mathematiker auf dem Gebiet der Kombinatorik, während seine Schwester von Cambridge nach Oxford umzog, um dort den Mastertitel in Computerwissenschaften zu erlangen. «Aus irgendeinem Grund haben wir Kinder alle diesen mathematischen Weg gewählt, obwohl unsere Eltern überhaupt keinen Bezug zur Mathematik haben», sagt Janzer: «Das ist doch ziemlich überraschend.»