Rütteln am Fundament des Lebens
Das Leben hat einen langen Weg hinter sich. Vor rund vier Milliarden Jahren bildeten sich Zellvorläufer, sogenannte Protozellen. Daraus entwickelten sich Bakterien und Archaeen, vor zwei Milliarden Jahren entstanden die ersten Eukaryoten, welche die Grundlage für vielzellige, komplexere Organismen waren. Dabei ist nichts geblieben, wie es war. Immer wieder traten Störungen auf: Meteoriten, Vulkanausbrüche, Heiss- und Eiszeiten. Mindestens fünfmal in der Erdgeschichte ereigneten sich Massenaussterben; doch verdrängen liess sich das Leben nicht.
Eine der treibenden Kräfte der Evolution sind Veränderungen: Neue Konkurrenz um Nahrung und Platz, Nahrungsknappheit, Umweltveränderungen, Klimawandel – ständig müssen sich alle Organismen, vom Bakterium bis zum Elefanten, ändern und anpassen – oder sie sterben aus.
Kooperation als Erfolgsmodell
Zur Untersuchung evolutionärer Veränderungen erweisen sich Bakterien als ideale Forschungsobjekte, weil sie klein sind und sehr kurze Generationszeiten haben. ETH-Professor Gregory Velicer hat sich als Modellorganismus das Bodenbakterium Myxococcus xanthus ausgesucht. Diese Mikrobe lebt in Gruppen, die gemeinschaftlich Jagd auf andere Mikroorganismen machen. In Hungerzeiten bilden tausende von Myxococcus-Zellen zusammen einen Fruchtkörper, und daraus gehen Sporen hervor, die im Boden unter widrigsten Bedingungen sehr lange überdauern können.
«Mittlerweile ist klar geworden, dass Mikroben keine isolierten Einzelgänger sind, sondern hochsoziale Lebewesen. Sie kooperieren, betrügen oder kämpfen einerseits innerhalb von sozialen Gruppen aus Zellen der gleichen Art, andererseits auch im Kontext komplexer artenübergreifender Gemeinschaften», sagt der Professor für Evolutionsökologie am Institut für Integrative Biologie. Relevant sei das auch in Bezug auf Krankheitserreger. So verfügen Zellen des gefürchteten Spitalkeims Pseudomonas aeruginosa oder des Cholera-Erregers Vibrio cholerae über eine spezielle Zell-Zell-Kommunikation, dank der sie widerstandsfähige Biofilme oder Zellgifte bilden.
«Wie sich Kooperation im Lauf der Zeit entwickelt und sich gegen ‹selbstsüchtiges› Individualverhalten durchsetzt und dabei nicht verloren geht, ist eine der wichtigen Fragen der Evolutionsbiologie», sagt Velicer.
Denn vor einiger Zeit konnte er zusammen mit Kollegen aufzeigen, dass es unter den Myxococcus-Zellen solche gibt, die andere Zellen aus der gleichen Gruppe betrügen: Gewisse Mutanten bilden von sich aus weder Fruchtkörper noch Sporen. Doch mischt man diese mit kooperierenden und sporenbildenden Zellen, nutzen Betrüger diese Fähigkeit aus, ohne die dafür nötige Energie in Form von Botenstoffen und Enzymen zusammen mit weiteren Kooperateuren bereitzustellen. Dadurch können Betrüger ihre Anteile in einer Population praktisch kostenlos erhöhen und damit den Fortbestand kooperativer Systeme gefährden. «Wir haben sogar beobachtet, dass Schummler ganze Bestände von Kooperateuren und Betrügern zum Aussterben bringen», erklärt Velicer.
Dennoch ist Kooperation ein Erfolgsmodell der Evolution: In einer Vielzahl biologischer Systeme hat sich Zusammenarbeit als evolutionär widerstandsfähig gegen solchen Betrug erwiesen. Denn kooperative Myxococcus-Bakterien können schnell soziale Anpassungen hervorbringen, wie Velicer in einer weiteren Studie entdeckte. So hat er beobachtet, wie sich ein sich ursprünglich sozial verhaltender Stamm zunächst in einen Betrüger und später wieder in einen Kooperateur entwickelte; und dies sogar in einer neuen, besser angepassten Form, die gegen die Betrugsversuche ihrer eigenen Vorfahren hochresistent war. In einer weiteren Studie fand ein Mitarbeiter Velicers heraus, dass die Wiederherstellung der Kooperation durch eine einzelne Mutation in einer zuvor unbekannten kurzen RNA (engl.: small RNA, sRNA) zustande kam. Es stellte sich heraus, dass diese sRNA essenziell an der Regulierung der Fruchtkörperbildung beteiligt war.
Plötzlich das Erbgut verdoppelt
Veränderungen des Erbguts sind eine der Grundlagen der Evolution. Sie ereignen sich spontan und zufällig; oft sind sie unbedeutend und wirken sich nicht aus. Doch es gibt auch Erbgutveränderungen, die massiv sind und das gesamte Erbgut betreffen: die Verdoppelung des gesamten Chromosomensatzes. Dies passiert von einem Moment auf den anderen, wenn bei der Reifeteilung der Keimzellen, der Meiose, die Chromosomen nicht wie üblich halbiert und gleichmässig auf die entstehenden Keimzellen aufgeteilt werden. Bei den Chromosomen handelt es sich um DNA-Fäden, die um ein Stützgerüst aus Proteinen gewickelt sind. Jede Körperzelle des Menschen hat 46 Chromosomen: zwei Geschlechtschromosomen und 22 Paare.
Schlägt die Meiose fehl, erhält eine der entstehenden Keimzellen alle Chromosomen und damit das gesamte Erbgut. Sie bleibt diploid, die andere geht leer aus und stirbt ab. Verschmelzen nun zwei diploide Keimzellen, erwächst daraus ein Organismus, dessen Zellen einen vierfachen Chromosomensatz besitzen. Er ist plötzlich polyploid – was die Zellbiologie und die Physiologie des Organismus vor substanzielle Herausforderungen stellt.
Die ETH-Professorin Kirsten Bomblies geht diesem Phänomen auf den Grund: «Solche Polyploidien entstehen zufällig oder infolge von Umweltänderungen wie Dürre, Kälte oder Salzstress.» Häufig sind sie bei Pflanzen zu finden, seltener bei Fischen oder Amphibien. Bei Säugern gibt es nur einen höchst umstrittenen Fall einer polyploiden Art. Die meisten Polyploidien sind nicht lebensfähig. Einigen Individuen bietet dies jedoch einen Vorteil. «Pflanzen mit mehrfachen Chromosomensätzen sind viel trockenheits- und salzresistenter als ihre Vorfahren», erklärt die Professorin für Pflanzenevolutionsgenetik am Departement Biologie der ETH Zürich. Polyploide Pflanzen haben auch grössere Früchte und Samen, was dieses «Modell» für die Züchtung ertragreicherer und resistenter Nutzpflanzen interessant macht.
Schon heute sind wichtige Nahrungspflanzen durch Züchtung polyploid gemacht worden: Weizen, Kartoffeln, Mais, aber auch Kaffee verfügen über mehrfache Chromosomensätze. In einem ihrer Projekte untersucht die Forscherin, weshalb polyploide Pflanzen so stresstolerant sind. Ein Grund dafür liegt in der Zellgrösse. Polyploide Zellen sind grösser als diploide. Das beeinflusst ihre Wechselwirkungen mit der Umwelt, beispielswiese beim Austausch von Gasen und Wasser. «Für mich als Evolutionsbiologin ist Polyploidie eine spannende ‹Störung›», betont Bomblies. «Sie ist tiefgreifend, weil sie alles in der Biologie eines Organismus verändert.»