Das schärfste Neutronenmikroskop der Welt
Die im Bau befindliche Europäische Spallationsquelle ESS ist eine Neutronenquelle der Superlative – sie liefert weit mehr Neutronen als andere Neutronenquellen und eröffnet der Forschung damit neue Möglichkeiten. Eines der insgesamt 15 Instrumente, die an ihr betrieben werden sollen, nimmt allmählich Form an: das Reflektometer ESTIA. Reflektometer messen Reflexionen beziehungsweise die Reflexionswinkel von Neutronen an Grenz- und Oberflächen, um deren Eigenschaften zerstörungsfrei zu testen. Bau und Betrieb vom ESTIA liegen komplett in der Hand des PSI. Dafür wurde nun die erste Hälfte einer wichtigen Komponente geliefert: die sogenannten Selene-Optik, die für einen besonders scharfen Blick auf Materialproben sorgt.
Neutronenquellen sind Grossforschungsanlagen. Sie liefern einen intensiven Neutronenstrom, den man mit verschiedenen Instrumenten nutzen kann, um Vorgänge und Strukturen im Nanomassstab zerstörungsfrei zu untersuchen und zu verstehen. So lassen sich etwa Metallbauteile oder archäologische Artefakte durchleuchten, biomolekulare Prozesse oder die elektronische Struktur und Dynamik neuartiger Supraleiter analysieren sowie bestehende Rätsel der Elementarteilchenphysik lüften. Je grösser die Brillanz des Strahls, desto kleinere Proben können damit beleuchtet werden und desto detaillierter sind die Erkenntnisse darüber, was in diesen vor sich geht.
Die ESS erzeugt ihre Neutronen durch sogenannte Spallation: Protonen werden auf das Metall Wolfram geschossen, zerschmettern dessen Atomkerne und setzen so Neutronen frei. Das hat den Vorteil, dass dazu kein Kernreaktor nötig ist. «Zudem lässt sich die Spallation anders als die aus den 1950er-Jahren stammenden klassischen Verfahren zur Neutronen-Gewinnung noch weiterentwickeln», sagt Marc Janoschek, Leiter des PSI-Labors für Neutronen- und Muoneninstrumentierung und des Projektes. «Sie ermöglicht eine höhere Brillanz des Neutronenstrahls, und ausserdem können Spallationsquellen gepulst betrieben werden. Beides zusammen erlaubt höhere Neutronenflüsse mit besserer Zeit- und Ortsauflösung und damit schnellere und genauere Messungen.»
Ein multinationales Grossprojekt
Insgesamt sind an dem Projekt ESS 13 Nationen beteiligt. Jede bringt ihre speziellen Kompetenzen ein. Die der Schweiz sind besonders breit gefächert, denn das PSI betreibt auf seinem Campus die bislang einzige kontinuierliche Spallations-Neutronenquelle der Welt namens SINQ und hat daher Erfahrung mit einer solchen Anlage. Alle anderen derzeit betriebenen Spallationsquellen arbeiten mit Neutronenpulsen. Neben ESTIA arbeitet das PSI daher zusammen mit Instituten anderer Länder noch an vier weiteren Instrumenten der ESS: dem Spektrometer BIFROST, dem Hybrid-Diffraktometer HEIMDAL, dem Bildgebungsinstrument ODIN und dem Einkristall-Diffraktometer MAGIC. Insgesamt baut das PSI Gerätschaften für 35 Millionen Euro.
Für die Allein-Entwicklung von ESTIA sind die Forschenden sowie Ingenieurinnen und Ingenieure des PSI prädestiniert, weil sie ein ganz ähnliches Instrument in der Schweiz bereits im Einsatz haben: das Reflektometer AMOR. Reflektometer werfen den Neutronenstrahl gezielt auf Grenz- und Oberflächen zweier oder mehrerer Materialien. Die Neutronen dringen in das Material ein und werden von deren Strukturen gestreut. Diese Streuung wird von Detektoren erfasst, die Reflexionswinkel werden berechnet und ausgewertet. Sie geben Aufschluss über die Zusammensetzung der streuenden Atome und ihre Anordnung zueinander. Weil die Neutronen mit den Atomkernen wechselwirken und nicht, wie etwa Röntgenstrahlung, mit den Elektronen in der Atomhülle, lassen sich sogar Isotope des einen Materials, die in das andere eindringen, auf Nanometer genau lokalisieren und identifizieren. Unregelmässigkeiten in einem Material oder einer Grenzschicht sind so sehr präzise festzustellen.
Grenzflächen sind von zentraler Bedeutung für das Verständnis von vielen Materialien und deren Verhalten im Einsatz. Zum Beispiel ist die Diffusion von Lithium-Ionen an Grenzflächen entscheidend für die Leistung von Batterien. In Halbleitern kommt es ebenfalls auf die Grenzflächen der Materialien an, und bei Sensoren und magnetischen Speichern spielen die magnetischen Eigenschaften der Grenzflächen eine grosse Rolle. Schon in der Grundlagenforschung offenbaren sich da spannende Phänomene, die man zuvor gar nicht kannte, berichtet Alessandra Luchini, leitende Wissenschaftlerin von ESTIA: «Zum Beispiel werden zwei zuvor nicht magnetische Materialien an ihrer Grenze plötzlich magnetisch, oder die supraleitende Temperatur eines Supraleiters steigt auf einem bestimmten Substrat von 10 auf 100 Kelvin.» So zeige sich, dass die Erforschung magnetischer und struktureller Grenzflächen auch für zukünftige Anwendungen wichtig ist. ESTIA schafft die Grundlagen dafür, diese Effekte in realistischem Massstab zu untersuchen – nämlich mit solchen Probengrössen, wie die Materialien auch tatsächlich zum Einsatz kommen.
Schweizer Präzision
Das Reflektometer AMOR am PSI in Villigen ist dabei besonders präzise: Es verfügt über eine sogenannte Selene-Optik, die am PSI entwickelt wurde. «Damit erreichen wir Strahl-Intensitäten, die um den Faktor 30 höher liegen als bei anderen Reflektometern», sagt der leitende Ingenieur von ESTIA Sven Schütz. «Und wenn wir diese Technologie nun bei ESTIA in Lund einsetzen, werden wir das noch weiter steigern können.»
Konkret ermöglicht die Selene-Optik – sie bildet ein etwa 24 Meter langes Führungselement für die insgesamt 39 Meter lange ESTIA-Anlage –, den Strom der Neutronen stärker auf eine Probe zu fokussieren. Darin lag bislang der Nachteil gegenüber Röntgenmikroskopen: Mit modernen Synchrotronquellen lassen sich Proben im Mikrometerbereich untersuchen, weil ihre elektromagnetische Strahlung, die von Elektronen in starken Magnetfeldern erzeugt wird, automatisch brillant ist. Neutronenstrahlen dagegen müssen erst stark fokussiert werden, um kleine Proben zu erforschen. «Bei AMOR verwenden wir stattdessen zwei in Serie installierte 18 Meter lange elliptische Neutronenspiegel. Diese bestehen aus hochpolierten Glassubstraten auf denen Metallschichten aufgedampft werden, welche die Neutronen reflektieren», erklärt PSI-ESS-Projektmanager Artur Glavic. So lässt sich der Strahl ähnlich wie mit einer Linse steuern. Man kann auf Proben fokussieren, die nur einen Quadratmillimeter klein sind. Ohne Selene-Optik waren nur zentimetergrosse Objekte machbar. Was etwa bei Computerchips, die ja stetig kleiner werden, immer seltener reicht, um nützliche Erkenntnisse zu gewinnen.
Zwei Lastwagen aus der Schweiz haben die Baustelle der ESS in Lund nun erreicht. Enthalten war die erste Hälfte des Selene-Optik-Trägers. Die zweite folgt laut Plan zwischen März und Mai 2022. Sven Schütz und Alessandra Luchini kümmern sich vor Ort um den Einbau. Die Optik ist mit Mess- und Einstellrobotern ausgestattet, sodass sie sich innerhalb der Sicherheitsabschirmungen fernsteuern lässt. Denn in der Anlage herrscht Vakuum und der Neutronenstrahl ist zu stark für direkte Eingriffe. Vollständig integriert sein soll die Optik Ende 2022, 2024 soll ESTIA als eines der ersten Instrumente der ESS den Betrieb aufnehmen.
Präzisionsarbeit trotz Pandemie
Die frühzeitige Einrichtung des Instruments dient nicht zuletzt ihrer Präzision: Die ESS steht auf einem komplexen Fundament aus Betonsäulen, das sich mit der Zeit erst setzt. Wenn der Selene-Optik-Träger früh genug installiert wird, setzt er sich quasi mit, und die Genauigkeit ist nachher umso grösser. «Dass die ersten Teile so zeitig geliefert wurden, war eine logistische Meisterleistung, die vor allem Artur Glavic, Alessandra Luchini und Sven Schütz vollbracht haben», sagt Marc Janoschek.
Doch der Aufwand lohnt. ESTIA im Speziellen und die ESS allgemein werden auch die Schweizer Forschung voranbringen. Insgesamt beteiligt sich daher das Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation mit 64,5 Millionen Euro beziehungsweise 3,5 Prozent an den Baukosten der ESS, die bei über 1,8 Milliarden Euro liegen. Der Betrieb beläuft sich zusätzlich auf rund 800 Millionen Euro bis 2026 und ab dann im Vollbetrieb auf rund 140 Millionen pro Jahr. Auch daran wird sich die Schweiz mit knapp 4 Prozent beteiligen. «Dabei geht es nicht nur darum, den Betrieb einer solch komplexen Anlage mit unserem Knowhow mit zu ermöglichen», sagt Marc Janoschek. „Ausserdem will die Schweiz natürlich ihren klügsten Köpfen den Zugang zu dieser weltweit einzigartigen Grossforschungsanlage ermöglichen, damit sie auch weiterhin weltweite Spitzenforschung leisten können.»