Der Roboter – dein Richter und Tröster
Als Alexis E. Block vor fünf Jahren während ihres Masterstudiums in Robotik in Pennsylvania nach einem Thema für ihre Abschlussarbeit gefragt wurde, musste sie nicht lange überlegen: Sie wollte einen Roboter entwickeln, der sie umarmt und ihr etwas Trost spendet. Kurz zuvor war ihr Vater gestorben und ihre Mutter lebte in Wisconsin, zweieinhalb Flugstunden entfernt. Block vermutete, dass sie damit nicht allein war. Millionen Menschen leben heute getrennt von ihren Familien. Wie schön wäre es, dachte sich Block, wenn wir unseren Liebsten, die nicht bei uns sein können, zumindest eine Umarmung zuschicken könnten? Und wie wichtig! Studien haben längst belegt, dass menschliche Umarmungen und körperlicher Kontakt den Blutdruck senken, gegen Stress und Angstzustände helfen und das Immunsystem stärken.
Gebote für Roboterumarmungen
Heute ist Block Doktorandin am «Max Planck ETH Center for Learning Systems», wo sie zwischen Stuttgart und Zürich «Huggiebot», ihren Umarmungsroboter, kontinuierlich weiterentwickelt. «Wir folgen dabei unseren sechs Geboten für natürliche und genussvolle Roboterumarmungen», erklärt Block. «Der Roboter muss weich und warm sein. Er muss die Grösse eines Menschen haben und das Gegenüber erkennen sowie die Umarmung an die Person anpassen können. Und er muss verlässlich von ihr ablassen, wenn sie es will.» Dafür hat Block den Torso ihres Umarmungsroboters mit Heizkissen und weichen, aufblasbaren Kammern überzogen. Sensoren im Torso messen den Druck des Gegenübers und Anfang und Ende der Umarmung. Sensoren in den Roboterarmen kontrollieren die Stärke der Umarmung. Mit einem 3D-Drucker hat Block einen Kopf mit integriertem Display gestaltet. Darüber kann der Roboter lachen und zwinkern und zugleich die Distanz und Bewegungen des Gegenübers erkennen und darauf reagieren.
Weiche Materialien, die sich organischen Körpern angleichen oder diese als Inspiration nutzen, werden in der Robotik immer wichtiger. Ein Ansatz, der beispielsweise auch Materialwissenschaften herausfordert. Das findet auch in der Lehre Niederschlag. Von Februar bis Juni organisierte das «Competence Center for Materials and Processes» deshalb eine Vorlesungsreihe zum Thema «Soft Robotics». Die Reihe umfasste Vorträge von renommierten Forschenden der Universitäten Stanford, Yale, Harvard und des MIT sowie aus der ETH-Domäne. In der Doktoratsschule desselben Zentrums, die diesen Sommer eröffnet wird, soll zudem einer von fünf Schwerpunkten auf solchen bioinspirierten Systemen liegen.
Für Introvertierte besonders attraktiv
2020 testete Block «Huggiebot 2.0», die zweite Version des Roboters, erstmals mit Probanden. Insgesamt 32 liessen sich vom Roboter umarmen und teilten danach ihre Erfahrungen. «Es war faszinierend», erzählt Block. «Manche Umarmungen dauerten so lange, dass ich richtig nervös wurde.» Einige Probanden hätten ihr erzählt, dass sie dringend wieder einmal eine feste Umarmung gebraucht hätten. Besonders introvertierte Personen hätten «Huggiebot 2.0» viel abgewinnen können, weil sie die Angst vor seltsamen Reaktionen auf eine längere Umarmung verloren. Es zeigte sich zudem, dass die Studienteilnehmenden danach eine signifikant positivere Einstellung gegenüber Robotern und deren Einführung in den Alltag hatten.
Block hat inzwischen «Huggiebot 3.0» entwickelt. Dieser soll auch fähig sein, zwischenmenschliche Gesten während Umarmungen, wie Reiben, Tätscheln oder Andrücken, zu registrieren, richtig zu klassifizieren und entsprechend zu reagieren. In Arbeit ist auch «Huggiebot 4.0» mit weiteren Fähigkeiten. Schritt für Schritt wird so die robotische Umarmung der menschlichen nachgebildet. Zudem entwickelt Blocks Team derzeit eine App, über die Umarmungen «verschickt» und vom Roboter reproduziert werden können. Dazugehörige Sprach- oder Videonachrichten der Liebsten können dann übers digitale Interface abgespielt werden. «Eine Umarmung eines Roboters wird diejenige eines Menschen trotzdem nie komplett ersetzen können», ist Block überzeugt. Hingegen könnten Roboter Einsamkeit lindern und vielleicht sogar die psychische Gesundheit verbessern, wenn der physische Kontakt aufgrund von Krankheit oder räumlicher Trennung nicht möglich sei. Erste mögliche Einsatzbereiche sieht die Forscherin in Spitälern, Altersheimen und natürlich Universitäten.
Weniger Vorurteile dank Algorithmus
Elliott Ash, Assistenzprofessor am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, hat einen ähnlich nüchternen Bezug zur Durchdringung unseres Alltags mit Robotik. «Roboter werden Richter in juristischen Verfahren nie ersetzen können, aber diese zunehmend unterstützen.» Er entwickelt virtuelle Hilfsassistenten für Richter und Richterinnen, damit diese ihre Urteile besser auf bestehenden Gerichtsentscheiden abstützen und weniger ihren Vorurteilen folgen. Studien aus den USA zeigen zum Beispiel, dass Angeklagte mit dunkler Hautfarbe beim selben Vergehen zu längeren Haftstrafen verurteilt werden und seltener gegen Kaution freikommen. In San Francisco gibt es Richter, die beinahe 90 Prozent der Asylanträge gutheissen, während es bei Kollegen gerade eben mal 3 Prozent sind. Hinzu kommt: An vielen Gerichten stapeln sich die Fälle. Die Richter kommen mit ihren Urteilen nicht mehr nach und haben entsprechend zu wenig Zeit für aufwändige Recherchen. Ein virtueller Assistent, der sämtliche Präzedenzfälle in ein, zwei Sekunden analysiert und darauf basierend Vorschläge für den aktuellen Fall macht, könnte die Qualität von Urteilen stark verbessern. Mit Hilfe von Big Data, maschinellem Lernen und Entscheidungstheorie könnten künftig auch Tonaufnahmen, Fotografien und Bilder von Überwachungskameras in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden.
Ash nutzt maschinelles Lernen aber auch dazu, um das juristische System selbst zu durchleuchten. In Zusammenarbeit mit der Weltbank untersuchte er kürzlich, ob der Fakt, dass Frauen und Muslime als Richter und Richterinnen an indischen Gerichten unterrepräsentiert sind, zu Verzerrungen in den Urteilen führt. Frühere Studien legten nämlich nahe, dass Richter das eigene Geschlecht und die eigene Religionszugehörigkeit bevorteilen.
Mit Kollegen entwickelte Ash ein neuronales Netzwerk, mit dem er weibliche sowie muslimische Namen in über 80 Millionen öffentlich zugänglichen Gerichtsdokumenten von mehr als 80 000 Richtern und Richterinnen für die Zeit zwischen 2010 bis 2018 ausfindig machte. Daraufhin suchte ein Algorithmus nach Korrelationen zwischen den Namen und den Urteilen. Die Forschenden fanden keine statistisch signifikante Diskriminierung in den Urteilssprüchen. Ash betont jedoch, dass dies nicht bedeute, dass das juristische System Indiens vorurteilslos sei. Die Diskriminierung könne auch auf der Ebene von Polizei oder Anklage erfolgen. «Aber unsere Ergebnisse helfen Politikern zu entscheiden, wo sie Diskriminierung am wirkungsvollsten bekämpfen können.» In Brasilien wiederum nutzte Ash frei zugängliche Budgets und Buchprüfungsdaten von hunderten von Kommunen, um einen Algorithmus zu trainieren, damit dieser auffällige Muster erkennt. Im Vergleich mit dem bisherigen Verfahren, bei dem Buchprüfende jährlich eine zufällige Auswahl an Kommunen besuchten, konnten mit Unterstützung des Algorithmus doppelt so viele Fälle von Korruption aufgedeckt werden.
Doch sobald maschinelles Lernen in sensible Bereiche wie das Recht eingeführt wird, stellen sich zwingend Fragen nach der Fairness und Ethik der dahinterliegenden Algorithmen. Wie verhindert man zum Beispiel, dass dieselben Vorurteile, die unsere Welt beherrschen, nicht 1:1 in die Algorithmen mit einprogrammiert werden? «Algorithmen dürfen keine Black Box sein», sagt Ash. «Sie sollten für alle zugänglich, nicht profitorientiert und unter demokratischer Kontrolle sein.» Dem Forscher schwebt deshalb eine Art Wikipedia für Algorithmen vor, über das jeder und jede Einblick in die Codes hat, die im Bereich der öffentlichen Verwaltung eingesetzt werden.
Glücksgefühle durch Roboter?
Robotikerin Block ist überzeugt, dass sich durch die Covid-19-Pandemie und den Zwang zur physischen Distanz auch die Einstellungen gegenüber Robotern verändert haben. «Früher wurde ich an Kongressen oft ausgelacht; es hiess, ‹Huggiebot› sei eine blöde Idee», erzählt die Forscherin. «Heute muss ich niemandem mehr erklären, weshalb Umarmungen wichtig sind und warum wir an solchen Systemen arbeiten.» Sie kooperiert derzeit mit einer Psychologin, um erstmals wissenschaftlich zu belegen, ob eine Umarmung von «Huggiebot 4.0», der neusten Roboterversion, bei Probanden Stress reduzieren und Glücksgefühle wecken kann – genauso wie bei einer echten Umarmung. Dafür werden 52 Probanden unter Laborbedingungen leicht gestresst und danach entweder gar nicht oder von einem Menschen oder einem Roboter umarmt. Dabei wird die Herzfrequenz erfasst und über Speichelproben werden der Oxytocin-Spiegel (für positive Emotionen) sowie Cortisol (für Stress) gemessen. Unabhängig vom Ergebnis wird sich Block nach einem harten Arbeitstag auch weiterhin gerne von «Huggiebot» drücken lassen. «Seine Umarmung ist und bleibt schlicht ein sensationelles Gefühl», sagt die Forscherin.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/02 des ETH-Magazins Globe erschienen.