Opioid-Vergiftungen nehmen stark zu
Die Opioid-Krise hält die USA seit Anfang der 2000er-Jahre in Atem, und die Corona-Pandemie hat die Situation noch verschärft. 2021 starben dort mehr als 100'000 Menschen an einer Opioid-Überdosis. Allmählich mehren sich die Anzeichen, dass es auch Europa mit einer Opioid-Krise zu tun bekommt. Erste Studien aus den Niederlanden und Dänemark machten auf den wachsenden Gebrauch von Oxycodon, ein starkes Opioid, aufmerksam. Dieser Wirkstoff, der ursprünglich unter dem Namen Oxycontin verkauft wurde, war ein wichtiger Treiber der Opioid-Krise in den USA.
Aus der Schweiz sind aus den vergangenen Jahren hingegen kaum Zahlen über die Verwendung von Opioiden bekannt, insbesondere in Bezug auf mögliche Schäden. Nun hat die Gruppe von Andrea Burden, Professorin für Pharmakoepidemiologie an der ETH Zürich, erstmals Daten ausgewertet, um den Trend in der Schweiz einschätzen zu können.
Um sich eine Übersicht zu verschaffen, werteten die Forschenden aus, wie sich die Zahl der Notfallanrufe bezüglich Opioid-Vergiftungen bei Tox Info Suisse, der Schweizer Informationsstelle bei Vergiftungen, in den Jahren 2000 bis 2019 entwickelt haben. Weiter nutzten sie Daten von IQVIA über die Opioid-Verkaufszahlen von Apotheken und Ärztinnen, die die Mittel abgeben dürfen. Diese Daten wurden von Pharmasuisse, dem Schweizerischen Apothekenverband, zur Verfügung gestellt.
Verkaufszahlen steigen an
Aus diesen Zahlen geht hervor, dass das Problem immer drängender wird. Die Zahl der Anrufe bei Tox Info Suisse aufgrund von Vergiftungsfällen mit Opioiden haben in diesem Zeitraum um 177 Prozent zugenommen. Gingen im Jahr 2000 noch 1,4 Anrufe pro 100'000 Einwohner:innen bei der Fachstelle ein, so waren es 20 Jahre später mehr als zweieinhalb Mal so viele.
Auch die Verkaufszahlen haben sich fast verdoppelt (+92%), von 14'300 verkauften Einheiten pro 100'000 Einwohner auf 27'400. Die Zunahme bei starken Opioiden war grösser als die bei schwachen, sowohl in Bezug auf Anrufe bei Tox Info Suisse als auch bei den Verkaufszahlen.
Absolut betrachtet trat 2019 das Schmerzmittel Tramadol am häufigsten in Erscheinung, sowohl bei Tox Info Suisse als auch bei den Verkäufen (40 Prozent). Tramadol ist ein schwaches Opioid, das bei mittelstarken und starken Schmerzen verschrieben wird.
Oxycodon mit steigender Tendenz
Am zweithäufigsten in Umlauf ist ein starkes Opioid, mit steigender Tendenz: Oxycodon, auf welches sich mehr als ein Drittel der Anfragen bei Tox Info Suisse beziehen. Fast ein Viertel der Verkäufe gehen auf das Konto dieses Mittels. Zwischen 2009 und 2016 haben die Zahlen in Bezug auf Oxycodon markant zugelegt, sowohl bei den Vergiftungsfällen als auch bei den Verkaufszahlen: Sie haben sich mehr als verdoppelt.
«Unsere Studie zeigt deutlich, dass in der Schweiz der Opioid-Konsum stark steigt», fasst Burden die Lage zusammen. «Die Verkaufszahlen haben etwa gleich stark zugenommen wie in den Niederlanden und in Dänemark. Allerdings sind die Pro-Kopf-Verkäufe in der Schweiz in den vergangenen Jahren substanziell höher.
Obwohl Situation hierzulande nicht annähernd so gravierend sei wie in den USA oder in Kanada, müsse die Lage beobachtet werden. «Die derzeit hohen Verkaufszahlen von Oxycodon sind vergleichbar mit denjenigen in Kanada in den frühen 2000er-Jahren», sagt Burden.
Fentanyl-Krise abwenden
Über illegalen Fentanyl-Konsum, ein bei sehr starken Schmerzen verabreichtes Opioid, sagt die Studie kaum etwas aus. Fentanyl wirkt etwa zehnmal so stark wie Oxycodon und hat ein hohes Potenzial für illegalen Konsum und tödliche Überdosen. Popstar Prince starb 2016 an einer Überdosis.
In den USA, in Kanada und Australien ging der illegale Konsum von Fentanyl durch die Decke, nachdem Oxycontin vom Markt genommen wurde. Die Substanz ist ein wichtiger Treiber der aktuellen Opioid-Epidemie in diesen Ländern.
Wie viele Personen derzeit in der Schweiz illegal Fentanyl konsumieren, kann Burden nicht sagen. Zahlen dazu sind nicht verfügbar. Fentanyl gilt als Betäubungsmittel und untersteht in der Schweiz einer verschärften Rezeptpflicht. Die ETH-Professorin gibt zu bedenken, dass eine plötzliche Einschränkung von starken Opioiden diejenigen Patient:innen, die von solchen Medikamenten abhängig geworden seien, auf den Schwarzmarkt treibe. «Das müssen wir unbedingt verhindern.»
Bei den Verkaufszahlen lag Fentanyl in der vorliegenden Studie an dritter Stelle der verkauften Opioide. Es wird allerdings fast ausschliesslich in Pflegeeinrichtungen eingesetzt, die Patienten mit Krebs im Endstadium betreuen.
In den Tox-Info-Suisse-Daten sind nur wenige Anrufe, die diese Substanz betreffen, enthalten. Die Forscherin hält es für plausibler, dass sich Personen mit Opioid- und insbesondere Fentanyl-Vergiftungen direkt an Notfalldienste wenden, um rasch ein Gegenmittel zu erhalten. Fälle von schweren Opioidvergiftungen werden deshalb von Tox Info Suisse kaum je festgehalten.
Spitze des Eisbergs
Für die Pandemie-Jahre 2020 und 2021 sind noch keine Daten bekannt. Ob sich der Aufwärtstrend bei den Opioiden wie in den USA massiv verstärkt hat, ist deshalb unbekannt. Das Bild, das die Zahlen von Pharmasuisse und Tox Info Suisse bieten, ist allerdings nicht vollständig.
Die ETH-Professorin ist deshalb überzeugt: «Die in der Studie präsentierten Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs. Wir brauchen unbedingt mehr Daten, um die mit dem Opioidkonsum in der Schweiz einhergehenden Schäden zu verstehen - dazu gehören die Zahl derer, die über ärztliche Verschreibungen eine Abhängigkeit entwickelt haben, und die Zahl der opioidbedingten Todesfälle», erklärt Burden weiter. Sie nimmt nun eine Folgestudie in Angriff, um diese Fragen zu klären.
Burden findet, dass man wachsam bleiben muss, unabhängig von weiteren Studien. «Von einer Opioid-Epidemie vom Ausmass Nordamerikas oder Australiens und Grossbritanniens sind wir in der Schweiz noch weit entfernt», betont die Forscherin.
In der Schweiz fehlen bis jetzt Daten, die über den vollen Umfang der Opioid-Verwendung und Abhängigkeiten Auskunft geben. «Wir müssen deshalb solche Daten sammeln, damit die Politik gut informiert entscheiden kann. In der Schweiz sind wir in der glücklichen Lage, dass wir aus der Situation anderer Länder noch etwas lernen können und hoffentlich eine Fentanyl-Epidemie verhindern können», sagt Burden.