Neue Methode entdeckt Korrosion im Stahlbeton auch an unzugänglichen Stellen

Ob Tunnel oder Stützmauern – viele Schweizer Stahlbetonbauwerke aus den 1960er- bis 80er-Jahren sind bedroht. Die Korrosion kann sie unstabil machen. Das ETH-Start-up Talpa hat nun eine Lösung entwickelt, um die Korrosion auch an schwer zugänglichen Stellen einfacher zu prüfen.
Lukas Bircher mit der Talpa-Inspektionssonde. Schwarz die beiden Dichtungselemente, dazwischen die Elektrode. Mit der neuen Sonde lassen sich Korrosionsschäden bei Stützmauern lokalisieren. (Bild: Alessandro Della Bella / ETH Zürich)

In Kürze

  • Seit den 1960er-Jahren bestehen viele Stahlbetonbauten in der Schweiz und Zentraleuropa. Die Zeit hinterlässt Spuren: Chemische Veränderungen im Beton können zur Korrosion des Stahls führen. 
  • Forschende der ETH Zürich haben nun eine innovative Methode entwickelt, um Korrosion auch in schwer zugänglichen Bauwerken wie Stützmauern, Tunneln und Brücken genau zu erkennen. 
  • Diese Methode nutzt elektrochemische Messungen. Damit lässt sich die Korrosionswahrscheinlichkeit bestimmen, ohne dass die Bauwerke wie bisher aufwändig aufzubrechen sind.

«Bitte das Kabel zurückziehen», sagt Lukas Bircher ins Funkgerät. Das Kabel seiner Sonde hat sich im vier Meter tiefen Zugangsschacht in der Metallleiter verhakt. Bircher wartet, das Funkgerät knackt. Nun hat ihn sein Kollege Samuel Ballat gehört, der 30 Meter entfernt im nächsten Zugangsschacht der Stützmauer kauert und das andere Kabelende hält. Das Kabel ruckelt, Bircher kann es befreien. Alles ready für die Messung.

Gefahr: Wenn der Stahl im Beton korrodiert

An diesem kalten Novembermorgen messen Bircher und sein Team, ob die 200 Meter lange Stützmauer an der Waidbadstrasse in Zürich-Höngg noch hält. Genauer: Sie untersuchen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der eingebaute Bewehrungsstahl, der den Beton stabiler macht, korrodiert.

Schliesslich hält die Stützmauer auf dem Zürcher Käferberg zig Tonnen Erdmaterial zurück. Oberhalb davon befinden sich Schrebergärten, unterhalb die Strasse mit Bushaltestelle. Damit die Mauer dem Erddruck standhält, muss der Bewehrungsstahl fest mit dem Fundament verbunden sein. Wenn die Korrosion den Verbindungsstahl beschädigt, könnte die Mauer schlimmstenfalls einstürzen. Um solche Risiken zu minimieren, haben der Maschinenbauingenieur Bircher und seine Kollegen aus der Forschungsgruppe von Ueli Angst, ETH-Professor für die Dauerhaftigkeit von Werkstoffen, eine innovative Methode entwickelt. Sie ermöglicht es, Korrosion im Bewehrungsstahl genau zu lokalisieren – und zwar ohne die Stahlbeton-Mauer aufwendig aufspitzen zu müssen.

«Das gab es bisher nicht», sagt Bircher. Wollte man prüfen, ob auf der Rückseite der Stützmauer der Bewehrungsstahl bereits Korrosionsschäden aufweist, blieb nichts anderes übrig, als die gesamte darüberliegende Betonschicht abzutragen. «Dann kann es aber immer noch sein, dass zwei Meter weiter der Bewehrungsstahl zu einem grossen Teil wegkorrodiert ist», sagt Bircher. Anders ist das mit der neuen Methode, die er und seine Kollegen entwickelt haben: Damit lässt sich die Korrosionswahrscheinlichkeit über die ganze Länge einer Stützmauer bestimmen, ohne ein einziges Stück davon zu zerstören. Denn gemessen wird durch die Entwässerungsrohre, die unmittelbar neben der kritischen Stelle verlaufen.

50 Jahre nach dem Bauboom – nun rostet’s

«Wenn man sich in der Schweiz und in ganz Zentraleuropa umschaut, wurde die Infrastruktur hauptsächlich zwischen 1960 und 1980 gebaut», sagt Bircher. Stützmauern, Tunnel, Brücken – all diese Stahlbetonbauten können mit der Zeit korrodieren. Zuerst finden chemische Veränderungen im Beton statt, danach beginnt der Bewehrungsstahl zu korrodieren. Besonders Stützmauern aus den 70er-Jahren können Hohlräume enthalten, wenn die Gesteinskörnung nicht genügend mit Mörtel umgeben ist. Dies begünstigt Korrosion.

Dieses Korrosionsrisiko wird heute, rund 50 Jahre nach dem Bauboom, akut. Das Risiko zu erkennen, ist jedoch anspruchsvoll, da die Schäden ungleichmässig in einer Mauer verteilt sind. Ausserdem befinden sie sich tief unter der Erde im Fundament und auf der Rückseite der Mauer. Höchste Zeit also für eine Methode, mit der sich Bauten auch unter der Oberfläche systematisch, effizient und kostengünstig auf Korrosion absuchen lassen.

Ein wichtiges Frühwarnsystem

Birchers neue Methode basiert auf sogenannten elektrochemischen Messungen. Die Sonde, die sein Team für die Inspektion von Stützmauern entwickelt hat, besteht aus zwei aufblasbaren Dichtungselementen an den Seiten sowie Elektroden in der Mitte. Dazu kommt eine Wasserleitung, die im zugehörigen Kabel integriert ist.

Zur Messung ziehen Bircher und seine Kollegen die Sonde über das Kabel in das Drainagerohr und pumpen die Dichtungen auf, damit sie sich fest an die Rohrwände anlegen. Anschliessend leiten sie Wasser in den abgedichteten Bereich. Das Wasser fliesst durch die Löcher der Entwässerungsleitung hinaus und verbindet die Elektroden in der Sonde mit dem Boden. Durch die Feuchtigkeit im Boden und im Beton entsteht eine elektrolytisch leitende Verbindung zum Stahl in der Stützmauer. So bildet sich eine lokale elektrochemische Messzelle. «Mit der Messzelle zeichnen wir elektrische Signale auf, die unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob der Bewehrungsstahl korrodiert ist oder nicht. Bei starker Korrosion laufen andere chemische Reaktionen im Beton und ab und erzeugen erkennbare elektrische Signale», erklärt Bircher.

An der Höngger Waidbadstrasse sitzt Bircher inzwischen am Laptop im Lieferwagen und startet die erste Messung. Auf dem Bildschirm erscheinen rote Punkte, die eine Kurve bilden: Das sind die gemessenen Potenziale, die sie später im Büro auswerten. Auf Birchers Tastendruck hin entlüften sich die Dichtungen wieder. «25 Zentimeter weiter bitte», weist Bircher seinen Kollegen Ballat an, der immer noch im Zugangsschacht hockt, um das Kabel zu bewegen. «Klar, Position ist 31,50», antwortet er. Bircher belüftet die Dichtungselemente erneut und startet die nächste Messung.

Alle 25 Zentimeter vermisst das Team die Mauer. Daraus erschliesst sich der Zustand des Bewehrungsstahls für den gesamten Mauerabschnitt – ein Frühwarnsystem für Korrosion. Entdeckt das Team in einem Abschnitt der Stützmauer tatsächlich Korrosion, lässt sich der betroffene Bereich gezielt reparieren. «Wir haben in der Schweiz über 1000 Kilometer potenziell teilkorrodierter Mauern, die noch einige Jahrzehnte halten müssen. Daher ist es wichtig, gezielt die Abschnitte zu entdecken, die eine Gefahr darstellen», erklärt Bircher.

Was fehlte: die zündende Idee

An der Waidbadstrasse teste das Talpa-Team ihren Prototypen. Dieser funktioniert, sagt Bircher, das wurde in Pilotprojekten geprüft. Allerdings passiert bei der Messung noch vieles von Hand. «Wir wollen die Messung künftig mehr automatisieren und die Inspektionssonde robuster machen.» Das Team ist auch schon im Kontakt mit möglichen Kunden und weiss, dass seine Methode gefragt ist.

Dafür nötig war nicht etwa eine brandneue Technologie. Solche elektrochemischen Messungen bestehen schon lange, sind aber bei Stützmauern von der Vorderseite her nicht zielführend. «Wir haben jedoch erkannt, dass wir den Korrosionszustand der Stahlbewehrung im Beton auch aus den Drainagerohren durch das feuchte und leitfähige Erdreich erreichen können», sagt Bircher. Es brauchte also schlicht diese neue schlaue Art, eine Messzelle in die Rohre zu bringen, sowie die Methode, um die gemessenen Werte zu interpretieren. Das haben Bircher und seine Kollegen nun geschafft. Würde die Stützmauer auf die althergebrachte Weise stichprobenartig aufgemacht und untersucht, bräuchte das mehrere Tage – und eine Baustelle. Das Talpa-Team dagegen benötigt knapp einen Tag – und ist dabei nicht auf Zufallstreffer angewiesen, wie bei der traditionellen, stichprobenartigen Methode.

Die Maulwürfe gründen ein Start-up

Weil sich ihre neue Methode bewährt, ist Lukas Bircher derzeit dabei, mit dem Materialingenieur Federico Martinelli-Orlando und dem Bauingenieur Patrick Pfändler ein Start-up namens TALPA-Inspection vorzubereiten. «Talpa» ist der wissenschaftliche Name für Maulwürfe. Unterstützung erhalten sie nicht nur von Ueli Angst, Professor am Departement Bau, Umwelt und Geomatik: Für seine innovative Methode hat Bircher ein ETH Pioneer Fellowship erhalten. Damit können er und sein Team ein marktfähiges Produkt entwickeln und ein eigenes Unternehmen gründen (vgl. das Kurzporträt von Talpa-Inspection bei den Pioneer Fellows).