In kleinen Schritten zum Tiefenlager
Setzen Staaten in ihrer Energiepolitik auf Atomkraftwerke, müssen sie sich über kurz oder lang mit der Entsorgung radioaktiver Abfälle auseinandersetzen. Wurden diese anfangs noch im Meer versenkt, scheint sich heute ein wissenschaftlicher und politischer Konsens zur geologischen Tiefenlagerung durchgesetzt zu haben. Auf der Grundlage des Kernenergiegesetzes verfolgt auch die Schweiz die langfristige Lagerung radioaktiver Abfälle in einem geologischen Tiefenlager. Wenn es darum geht, wo diese Tiefenlager gebaut werden sollen, gibt es viele offene Fragen und Skepsis. Auf dem Weg dorthin spielen nicht nur geologische Kriterien eine Rolle, sondern auch der Einbezug von allfällig betroffenen Akteuren. Es ist naheliegend, dass die Chancen einer erfolgreichen Realisierung steigen, wenn die lokale Bevölkerung, Gemeinden, Kantone und das benachbarte Ausland möglichst früh miteinbezogen werden.
Zu einem Tiefenlager gehören auch verschiedene Anlagen an der Oberfläche, in denen der nukleare Abfall für die Endlagerung vorbereitet wird. Es stellt sich die Frage, ob sämtliche Handhabungsschritte am Standort des Tiefenlagers ausgeführt werden müssen oder ob die Verpackung in die Endlagerbehälter auch an einem anderen Ort stattfinden könnte. Damit wird die Frage einer Lastenverteilung angesprochen, was aus Sicht der Verhandlungsführung natürlich ein spannender Aspekt ist: Eine Region nähme das Tiefenlager, eine andere die Verpackungsanlage.
Keine neue «Nuklearisierung»
2020 hat der Bund dazu eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, deren Mitglieder aus den drei möglicherweise betroffenen Regionen, den jeweiligen Kantonen, den benachbarten deutschen Landkreisen sowie aus der Gemeinde Würenlingen, in der die Abfälle derzeit zwischengelagert sind, stammen. Wir vom ETH-Lehrstuhl für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement sollten der Arbeitsgruppe Lösungsvorschläge unterbreiten und die Gespräche moderieren. Dazu hat unser Team unter der Leitung von Professor Michael Ambühl ein allgemeines, umfassendes Bewertungsschema vorgeschlagen, das wir mit der Arbeitsgruppe sukzessive genauer ausgearbeitet haben.
Zunächst mussten aber zwei grundsätzliche Fragen geklärt werden: Wo könnten die Abfälle sonst noch verpackt werden? Und ist die Sicherheit bei einer externen Verpackung gewährleistet? Aufgrund der Inputs von Fachleuten kamen wir zum Schluss, dass der wohl einzige sinnvolle externe Standort beim Zwischenlager Würenlingen liegt – will man doch eine «Nuklearisierung» eines neuen Standortes verhindern. Es hat sich ebenfalls gezeigt, dass eine Verpackungsanlage überall gleich sicher betrieben werden kann. Diese beiden Erkenntnisse dienten als Arbeitshypothesen im weiteren Prozess.
Sich auf ein Bewertungsschema einigen
Aus diesen Vorarbeiten resultierte ein gemeinsam erarbeitetes Bewertungsraster, auf dessen Basis die Delegationen ihre Stellungnahmen strukturiert und vergleichbar abgeben konnten. Es ging dabei um Fragen rund um Lastenverteilung, Raumplanerische Konflikte, Synergien oder Transport. Jede Delegation beurteilte anhand dieser vier Kriterien, ob die Verpackung der Atomabfälle beim Tiefenlager oder im Zwischenlager stattfinden soll. In den entsprechenden Stellungnahmen haben sich schliesslich die unterschiedlichen Einzelinteressen klar abgezeichnet.
Resultat dieses Prozesses war, dass die Delegationen eine gemeinsame Erklärung verabschiedeten, die neben den Positionen der beteiligten Akteure auch eine Empfehlung für das weitere Vorgehen enthält. Der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) wird darin empfohlen, abhängig von der Wahl des Tiefenlagerstandorts, bei der Frage der Platzierung der Verpackungsanlage nur noch die tatsächlich betroffenen Akteure miteinzubeziehen.
Aus meiner Sicht zeigt dieses Beispiel schön, wie der Schweizer Ansatz der Partizipation eine echte Chance sein kann. In diesem Fall konnten sich die betroffenen Akteure, die Nagra und der Bund zielgerichtet austauschen. Dieses Beispiel zeigt, dass Lösungen auch für komplexe und kontroverse nationale Aufgaben möglich sind und dass sich die ETH Zürich in aktuelle soziotechnischen Fragen einbringt.