Exakte Kartographie von Rückenmarksverletzungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der EPFL haben einen wichtigen Meilenstein in der Forschung auf dem Gebiet der Rückenmarksverletzungen erreicht: Mit ihrem Open-Source-Projekt Tabulae Paralytica haben sie die zelluläre und molekulare Dynamik der Lähmung in noch nie dagewesener Detailgenauigkeit kartiert. Grégoire Courtine und sein Team haben modernste Zell- und Molekularkartierungstechnologien mit künstlicher Intelligenz kombiniert, um die komplexen molekularen Prozesse aufzuzeichnen, die sich in jeder Zelle nach einer Rückenmarksverletzung abspielen. Diese bahnbrechende Arbeit, die in Nature veröffentlicht wurde, identifiziert nicht nur eine bestimmte Gruppe von Neuronen und Genen, die eine Schlüsselrolle für die Genesung spielen, sondern schlägt auch eine erfolgreiche Gentherapie vor, die auf ihren Entdeckungen beruht.
Die Bedeutung dieses Durchbruchs wird deutlich, wenn man versteht, warum Rückenmarksverletzungen kaum zu heilen sind. Das menschliche Rückenmark ist eines der komplexesten biologischen Systeme, die der Wissenschaft bekannt sind – es ist eine mechanische, chemische und elektrische Anordnung verschiedener Zelltypen, die in Harmonie zusammenarbeiten, um eine Vielzahl neurologischer Funktionen zu erzeugen und zu regulieren, einschliesslich eines natürlichen, eleganten Gangs. Diese zelluläre Komplexität erschwert die wirksame Behandlung von Lähmungen, die durch Verletzungen des Rückenmarks verursacht werden.
Bisher haben herkömmliche Bildgebungs- und Kartierungsmethoden einen allgemeinen Überblick über die zellulären Mechanismen von SCI geboten. Dieser Mangel an Spezifität verwischt jedoch die unterschiedlichen Rollen und Reaktionen der einzelnen Zelltypen und hat die Entwicklung gezielter Behandlungen behindert, da die Therapien nicht auf die spezifische Zelldynamik abgestimmt werden konnten.
«Mit dieser Studie wollten wir das biologische Verständnis von Rückenmarksverletzungen revolutionieren», sagt Courtine. «Die vier Zellatlanten der Tabulae Paralytica bieten einen aussergewöhnlich detaillierten Überblick über die zelluläre und molekulare Dynamik von Rückenmarksverletzungen bei Mäusen in Raum und Zeit und schliessen damit eine historische Wissenslücke, die den Weg für gezielte Behandlungen und eine bessere Genesung ebnet.»
Die erste Behandlung, die aus diesem neuen Verständnis der komplizierten zellulären Dynamik der Lähmung hervorgeht, ist eine gezielte Gentherapie. Sie wurde in Zusammenarbeit mit Bernard Schneider, Professor für Neuro X an der EPFL, entwickelt und nutzt eine entscheidende Erkenntnis: Die Forschenden fanden heraus, dass eine bestimmte Art von Stützzellen, die so genannten Astrozyten, bei alten Tieren ihre Fähigkeit verlieren, auf Verletzungen zu reagieren.
«Während der letzten hundert Jahre glaubte man, dass Astrozyten der Nervenreparatur abträglich sind. Unsere Daten unterstützen die Umkehrung dieser Vorstellung und deuten auf eine wesentliche Schutzfunktion dieser Zellen hin, die für die Reparatur von Rückenmarksverletzungen genutzt werden kann», sagt Mark Anderson von der EPFL, Hauptautor der Studie.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie ist die Identifizierung einer bestimmten Untergruppe von Neuronen, den so genannten Vsx2-Neuronen, die von Natur aus in der Lage sind, die Genesung zu fördern.
«Unsere früheren Studien wiesen in ihre Richtung, aber mit diesem neuen, fein abgestimmten Verständnis können wir nun mit Sicherheit sagen, dass Vsx2-Neuronen weitgehend für die Reorganisation der neuronalen Schaltkreise verantwortlich sind, was bedeutet, dass sie bei weitem die interessanteste Neuronenpopulation für die Reparatur von Rückenmarksverletzungen sind», erklärt Jordan Squair, ein weiterer Hauptautor der Studie der EPFL.
Um die erste umfassende zelluläre Karte von Rückenmarksverletzungen in Nagetiermodellen zu erstellen, setzten die Forschenden zwei innovative Technologien ein. Mit der ersten, der Einzelzellsequenzierung, wird die genetische Zusammensetzung jeder Zelle untersucht. Sie wird zwar schon seit mehr als einem Jahrzehnt eingesetzt, doch die jüngsten Fortschritte ermöglichten es den Forschenden, den Prozess auf ein noch nie dagewesenes Niveau zu heben und detaillierte Daten von Millionen von Rückenmarkszellen zu erstellen.
Zweitens wurde mit der räumlichen Transkriptomik – einer Spitzentechnologie, die uns zeigt, wo diese zellulären Aktivitäten stattfinden – die Karte auf das gesamte Rückenmark ausgedehnt, wobei der räumliche Kontext und die Beziehungen zwischen verschiedenen Zelltypen erhalten blieben.
Nutzung von KI
Die neuen Daten sind so umfangreich, dass neue Techniken des maschinellen Lernens entwickelt werden mussten, um die Komplexität der Daten zu nutzen. Dieser rechnerische Ansatz nutzt künstliche Intelligenz, um nicht nur die unmittelbaren genetischen Reaktionen einzelner Zellen aufzuzeichnen, sondern diese Reaktionen auch in die physische und zeitliche Landschaft des Rückenmarks einzuordnen.
«Wir haben jetzt eine detaillierte Karte, die uns nicht nur zeigt, welche Zellen beteiligt sind, sondern auch, wie sie interagieren und sich im Laufe des Verletzungs- und Genesungsprozesses verändern», erklärt Squair. «Dieses umfassende Verständnis ist entscheidend für die Entwicklung von Behandlungen, die genau auf bestimmte Zellen und einzigartige Anforderungen für die Heilung unterschiedlicher Verletzungen zugeschnitten sind, und ebnet den Weg für wirksamere und personalisierte Therapien.»
Die «Tabulae Paralytica» ist ein wichtiger Meilenstein in der SCI-Forschung. Sie verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse mit technologischer Innovation und eröffnet neue Horizonte für das Verständnis und die Behandlung von SCI. Obwohl diese Studie an Nagetiermodellen durchgeführt wurde, dürften die gewonnenen Erkenntnisse in die klinische Anwendung einfliessen, wo Courtine und sein Team seit über einem Jahrzehnt bedeutende Fortschritte erzielen.