Wissen, wo Erdbeben schaden
Angenommen, zehn Kilometer nordöstlich der Stadt Zürich ereignet sich irgendwann in der Zukunft ein Erdbeben mit einer Magnitude von 6. Das ist ein massives, schadenbringendes Erdbeben, das in der ganzen Schweiz zu spüren wäre und allein im Kanton Zürich mehrere tausend Gebäude beschädigen würde, nicht zu sprechen von hunderten möglichen Todesopfern und tausenden Menschen, die ihr Obdach verlören und selbst ein Jahr nach dem Beben noch immer in Notunterkünften hausten.
Ein solches Szenario ist nicht ausgeschlossen, und es stammt auch nicht aus dem Drehbuch eines Katastrophenfilms. Es basiert auf dem neuen Erdbebenrisikomodell für die Schweiz, das heute Dienstag in Bern der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Erstes Erdbebenrisikomodell erstellt
«Bisher wussten wir wenig darüber, welche Auswirkungen Erdbeben in der Schweiz haben könnten», sagt Stefan Wiemer, Direktor der Schweizerischen Erdbebendienstes (SED) an der ETH Zürich. Der SED erstellte deshalb zusammen mit dem Bundesamt für Umwelt und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz im Auftrag des Bundesrates deshalb erstmals ein Erdbebenrisikomodell.
Das Risikomodell zeigt, wie sich schadenbringende Erdbeben auf Menschen und Gebäude auswirken. Dazu kombinierten die Seismolog:innen Informationen zur Erdbebengefährdung, zum Einfluss des lokalen Untergrunds, zur Verletzbarkeit von Gebäuden sowie zu den betroffenen Personen und Sachwerten. Das neue Modell ergänzt die Gefährdungskarte, die der SED vor einigen Jahren veröffentlichte. Diese zeigt auf, wie oft und wie stark die Erde an bestimmten Orten in Zukunft beben könnte. Das Erdbebenrisikomodell ist grundsätzlich frei verfügbar und soll den Behörden helfen, fundierte Entscheide im Bereich Erdbebenvorsorge und Ereignisbewältigung zu treffen.
Mittelland-Städte mit hohem Risiko
Gemäss dem neuen Risikomodell werden die meisten Gebäudeschäden in den Kantonen Bern, Wallis, Zürich, Waadt und Basel-Stadt erwartet. Am grössten ist das Risiko in den Städten Basel, Genf, Zürich, Luzern und Bern (in dieser Reihenfolge). Zwar unterscheidet sich die Erdbebengefährdung in diesen Regionen, aber wegen ihrer Grösse wären in diesen fünf Städten viele Menschen und Sachwerte von einem Erdbeben betroffen. Zudem verfügen diese Städte über etliche, teils besonders verletzliche Gebäude, die oft auf einem weichen Untergrund stehen, der Erdbebenwellen verstärkt.
Hohe Schadenssumme zu erwarten
Die Expert:innen des SED erwarten aufgrund ihrer Modellrechnungen, dass schadenbringende Erdbeben in der Schweiz über einen Zeitraum von 100 Jahren allein an Gebäuden und dem darin enthaltenen Mobiliar einen wirtschaftlichen Schaden von 11 bis 44 Milliarden Schweizer Franken verursachen können. Insgesamt würden etwa 150 bis 1600 Menschen sterben und schätzungsweise 40’000 bis 175’000 obdachlos werden.
Hinzu kommen Schäden und Verluste durch Hangrutschungen, Brände oder Betriebsunterbrüche, die durch das Erdbeben ausgelöst werden. Diese sind noch nicht im Modell berücksichtigt. Das Erdbebenrisiko verteilt sich dabei nicht gleichmässig über die Zeit, sondern wird durch seltene, katastrophale Ereignisse dominiert, die meistens ohne Vorwarnung auftreten.
Mit dem neuen Risikomodell lässt sich zudem auch veranschaulichen, wie sich historische Schadensbeben auf die heutige Schweiz auswirken würden. Das Basler Beben von 1356 würde heute zu etwa 3000 Toten und Gebäudeschäden im Umfang von 45 Milliarden Schweizer Franken führen.
Schadenszenarien für Kantonshauptorte
Weil schwere Erdbeben grundsätzlich überall auftreten können, stellt der SED für jeden Kantonshauptort und eine weitere Ortschaft ein separates Szenario für ein schadenbringendes Beben mit einer Magnitude von 6 bereit. Ein solches Erdbeben ereignet sich durchschnittlich alle 50 bis 150 Jahre irgendwo in der Schweiz oder im grenznahen Ausland. Die insgesamt 49 Szenarien sollen die Behörden und die Bevölkerung sensibilisieren und sie dabei unterstützen, sich besser auf schadenbringende Erdbeben in der Zukunft vorzubereiten.
Bei der Entwicklung des Erdbebenrisikomodells legten die Forschenden ihren Schwerpunkt auf die Aufbereitung der Datengrundlagen. Sie simulierten über drei Millionen Erdbeben, die sich in der Schweiz und im grenznahen Ausland ereignen könnten. Die mehr als zwei Millionen Wohn-, Geschäfts- und Industriegebäude in der Schweiz wurden in verschiedene Kategorien der Verletzbarkeit eingeteilt, um die möglichen Schäden infolge von Erdbeben modellieren zu können. Darüber hinaus lieferten verbesserte Daten zum Untergrund ein deutlich besseres Bild der lokalen Auswirkungen.
Trotz verbesserter Daten können die tatsächlichen Folgen aufgrund der vielen Modellunsicherheiten jedoch stark von den berechneten Szenarien abweichen. Um diese Unsicherheiten zu verkleinern und damit die Modellaussagen zu verbessern, werden die Seismolog:innen das Erdbebenrisikomodell in den nächsten Jahren weiterentwickeln.
Erdbebendienst und Bund arbeiten zusammen
An der Erarbeitung des Risikomodells haben sich neben dem Schweizerischen Erdbebendienst (SED) an der ETH Zürich auch das Bundesamt für Umwelt (Bafu), das Bundesamt für Bevölkerungsschutz, die EPFL und Partner aus der Industrie beteiligt. Das Erdbebenrisikomodell ist Teil des Massnahmenprogramms des Bundes zur Erdbebenvorsorge, welches das Bafu koordiniert. Das Programm hat zum Ziel, ein umfassendes Erdbebenrisikomanagement auf Bundesebene sicherzustellen. Somit tragen die Erkenntnisse aus dem Erdbebenrisikomodell zur nationalen Risikoanalyse und zu den Vorsorgeplanungen auf Stufe Bund und Kantone bei. Zudem dient das nationale Erdbebenrisikomodell der Schadenorganisation Erdbeben (SOE), die derzeit aufgebaut wird, als wichtiges Element für die Planung und Durchführung ihrer Arbeit. Die SOE wird nach einem Erdbeben die zu erwartenden Kosten aufgrund von Gebäudeschäden abschätzen, damit rasch mit dem Wiederaufbau gestartet werden kann.