Bessere motorische, sensorische und kognitive Erholung nach Schlaganfall
Wenn Sie eine Zeit lang so liegen, dass Druck auf einen Nerv in Ihrem Arm ausgeübt wird, kann es passieren, dass Sie Ihren Arm nicht mehr spüren. Sie können seine Lage und Grösse nicht mehr wahrnehmen, und es kann sich sogar so anfühlen, als gehöre er nicht zum eigenen Körper. Wenn dieser Zustand jahrelang anhält, wird die Repräsentation der oberen Gliedmassen im Gehirn chronisch verzerrt. Diese Störung der Körperrepräsentation ist eine neurologische Störung und gehört zu den häufigsten Langzeitfolgen eines Schlaganfalls. Sie beeinträchtigt stark die Art und Weise, wie Menschen ihren Körper in der Umwelt nutzen, um sich zu bewegen, zu handeln und zu fühlen.
Schlaganfallpatienten berichten über eine breite Palette von Symptomen, wie z. B. die Unfähigkeit, den eigenen Arm zu verkörpern. Sie berichten auch über Symptome wie die Unfähigkeit, die Muskeln in ihren Armen und Händen zu kontrollieren, die Unfähigkeit, die Greifkraft beim Halten eines Objekts fein zu modulieren, und Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung ihrer Arme und Hände im Allgemeinen.
Unbehandelt können die Defizite in der Wahrnehmung und Körperrepräsentation dazu führen, dass die Patientinnen die betroffene Gliedmasse als kürzer, weniger empfindlich und weniger reaktionsfähig wahrnehmen und sie schliesslich sogar «vergessen».
In der EU ist der Schlaganfall laut einer Studie aus dem Jahr 2020 die häufigste Ursache für Behinderungen bei Erwachsenen, und Covid hat das Szenario noch verschlimmert. Die Zahl der Schlaganfallpatienten, die langfristige Unterstützung und Rehabilitation benötigen, ist seit dem Ausbruch von Covid-19 dramatisch angestiegen, ebenso wie die Zahl der grippebedingten Schlaganfälle bei jungen Menschen. Während sich einige Schlaganfallüberlebende erholen, kann die Beeinträchtigung der oberen Gliedmassen chronisch werden und bei bis zu 75 % der Schlaganfallpatienten das Verhalten der Patientin ernsthaft beeinträchtigen.
Neuartige neuromuskuläre Elektrostimulation für eine verbesserte Rehabilitation
Nun hat ein Konsortium aus Neurowissenschaftlern, Klinikfachleuten und Neuroingenieurinnen, an dem das Labor für kognitive Neurowissenschaften der EPFL (unter der Leitung von Olaf Blanke), das MySpace Lab am CHUV (unter der Leitung von Andrea Serino) und das Krankenhaus Villa Beretta (unter der Leitung von Franco Molteni) beteiligt sind und unter der Leitung des EPFL-Labors für Translational Neural Engineering (unter der Leitung von Silvestro Micera), gezeigt, dass eine sorgfältig abgestimmte elektrische Stimulation des neuromuskulären Systems in Kombination mit den derzeitigen Rehabilitationspraktiken vielversprechend ist, um die Kontrolle über die oberen Gliedmassen und das Körpergefühl bei Schlaganfallpatienten mit langfristigen Behinderungen wiederherzustellen. Die Einzelheiten ihrer Protokolle zur neuromuskulären Elektrostimulation (NMES), die an 45 chronischen Schlaganfallpatientinnen und -patienten getestet wurden, werden heute in MED, der neuen klinischen und translationalen Zeitschrift der CELL-Redaktionsfamilie, veröffentlicht. Diese Arbeit wurde von einer von CARIGEST beratenen Stiftung, von der Fondazione CARIPLO, vom SNF NCCR Robotics und von der Bertarelli-Stiftung unterstützt.
«Unser Ansatz hat das Potenzial, neurorehabilitative Interventionen zu erleichtern, die auf mehrere Wahrnehmungsbereiche abzielen, darunter die taktile Schärfe, die wahrgenommene Körpergrösse, verzerrte Empfindungen des Arms und folglich die Wiederherstellung der Nutzung des Arms», erklärt Erstautor Andrea Crema. Er fährt fort: «Unser Ansatz reduzierte die Wahrnehmungsdissoziation der betroffenen Gliedmasse, weshalb es so wichtig ist, eine gezielte elektrische Stimulation der Muskeln bei chronischen Schlaganfallüberlebenden zu verfolgen und die Behandlung auf die spezifischen Defizite zuzuschneiden.»
© 2022 EPFL
Die motorischen und somatosensorischen Verbesserungen hielten auch nach dem Ende der Behandlung an. Darüber hinaus verbesserte das Elektrostimulationsprotokoll die Körperrepräsentation, d. h. die wahrgenommenen Dimensionen und das veränderte Gefühl gegenüber der betroffenen Gliedmasse. «Interessanterweise korrelierte die Verringerung der veränderten Gefühle mit den motorischen Verbesserungen und hing von der Menge der Elektrostimulation ab», erklärt Crema.
Roboterhandschuh-Reha vs. neuartige NMES-Reha
Fünfundvierzig chronische Schlaganfallpatientinnen nahmen über einen Zeitraum von neun Wochen an siebenundzwanzig Sitzungen mit NMES teil. Jede Sitzung dauerte 90 Minuten, davon 60 Minuten konventionelle physiotherapeutische Rehabilitation und 30 Minuten ergänzende Behandlung mit einem Roboterhandschuh oder einer individuell angepassten NMES. Die Personen wurden in drei Gruppen mit einer unterschiedlichen Mischung aus konventioneller Rehabilitation und NMES-Behandlung aufgeteilt. Die erste Gruppe benutzte während aller zusätzlichen Sitzungen einen Roboterhandschuh, um aufgabenbezogene Übungen durchzuführen. Die zweite Gruppe verwendete in allen ergänzenden Sitzungen ein neuartiges NMES-Paradigma. Die dritte Gruppe benutzte den Roboterhandschuh für die Hälfte der Sitzungen und die NMES für die andere Hälfte der Sitzungen.
Die Forschenden massen dann die motorischen Leistungen, die sensorischen Fähigkeiten und die Körperwahrnehmung der einzelnen Patienten vor, während und nach der neunwöchigen klinischen Studie.
Die Leistung der Patientinnen verbesserte sich mit NMES früher als mit dem Roboterhandschuh. Am Ende der Behandlung war die motorische Verbesserung in den Gruppen mit teilweiser oder vollständiger NMES höher als mit dem Handschuh allein. Die Verbesserung erstreckte sich auch auf die somatosensorischen Funktionen und die Messung der Körperrepräsentation.
Die aktuelle Studie konzentriert sich auf chronische Schlaganfallpatientinnen und -patienten, die bereits mehrere Interventionen erhalten hatten und ein bestimmtes Niveau der Verbesserung erreicht hatten. Die Ergebnisse zeigen, dass eine gezielte, intensive Intervention, insbesondere mittels NMES, die Genesung weiter vorantreiben kann. Sie deuten auch darauf hin, dass subakute Schlaganfallpatienten, d. h. solche, die gerade erst einen Schlaganfall erlitten haben, ebenfalls von NMES profitieren könnten, obwohl dies noch nicht getestet wurde.
«Die Herausforderung bei subakuten Schlaganfallpatientinnen liegt in der unbeständigeren sensorischen Wahrnehmung und Körperrepräsentation. Für sie könnte die NMES von grösserem Nutzen sein, wenn sie auf ihren sich schnell verändernden Zustand abgestimmt ist», erklärt Crema.
Eine der grossen Neuerungen der Studie besteht darin, dass nicht nur die motorische Erholung, sondern auch die sensorischen Defizite und die Körperrepräsentation erfasst und bewertet werden. «Diese Studie zeigt, wie wichtig eine vielschichtige Bewertung der Funktionen nach einem Schlaganfall ist, und ebnet den Weg für wirksamere klinische Rehabilitationsprotokolle», sagt Silvestro Micera.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten derzeit an einem neuen System, das feinere motorische und sensorische Stimulationsstufen und eine breitere Palette von Stimulationsmöglichkeiten bietet.