Cooler Newcomer
Mit einer Pinzette und viel Fingerspitzengefühl greift die Biophysikerin Emiliya Poghosyan ein winziges Objekt und hält es ans Licht. Bei genauem Hinsehen entpuppt es sich als kreisrundes Gitter aus Kupfer, nur drei Millimeter im Durchmesser. Diese «Grids» genannten Objektträger sind essenzielle Hilfsmittel für alle Forschenden, die wie Poghosyan mit Elektronenmikroskopie ihre Wissenschaft betreiben. «Auf die kleinen Gitter tragen wir unsere Probe auf – allerdings darf die Probenschicht am Ende maximal 100 Nanometer dünn sein», erklärt Poghosyan. Das ist zirka ein Fünfhundertstel der Dicke eines menschlichen Haars. Nur so ist es möglich, unter dem Mikroskop einzelne Moleküle wie Proteine zu erfassen und zu studieren.
«Es ist faszinierend, wie rasant sich die Elektronenmikroskopie in den letzten Jahren entwickelt hat», sagt Emiliya Poghosyan, Wissenschaftlerin im PSI-Labor für Biologie im Nanobereich und zuständig für die elektronenmikroskopischen Gerätschaften am PSI. Im Grunde funktioniert ein Elektronenmikroskop wie ein gewöhnliches Lichtmikroskop; statt mit normalem Licht bestrahlt man die Untersuchungsobjekte aber im Vakuum mit Elektronen und erreicht so eine 2000-fach höhere Auflösung als mit dem besten Lichtmikroskop. Dementsprechend lassen sich viel kleinere Objekte untersuchen.
«Die Auflösung ist inzwischen so gut, dass wir mit der Methode die dreidimensionale Struktur von Proteinen und anderen Biomolekülen bestimmen können.» Möglich wurde das unter anderem durch eine neue Generation von Detektoren, die Elektronen direkt erfassen, sowie durch Auswertemethoden, welche die Aufnahmen von Millionen Molekülen in einer Probe miteinander abgleichen und quasi den Durchschnitt daraus bilden. So entstehen Bilder mit verbessertem Signal-Rausch-Verhältnis, aus denen anschliessend scharfe molekulare Strukturen ermittelt werden. So nahm vor weniger als zehn Jahren die sogenannte «Resolution Revolution» ihren Lauf.
Für biologische Proben brachte die Kryo-Elektronenmikroskopie den Durchbruch, erklärt die Wissenschaftlerin. Dabei werden die Proben vor der Messung schockgefroren. Die Kälte bewahrt die empfindlichen Proben vor Schäden, welche die schnellen Elektronen unweigerlich beim Aufprallen auf die Probe verursachen. «Im Vergleich zur Messung bei Raumtemperatur können wir ungefähr hundertmal so viele Elektronen auf die Probe schiessen, bevor sie zerstört wird», sagt Poghosyan. «Und jedes Elektron mehr erhöht das Signal und die Menge an Informationen, die wir bei der Messung erhalten.»
Eiskristalle unerwünscht
Emiliya Poghosyan spannt die Pinzette mit dem Kupfergitter in ein längliches Gerät ein, den «Vitrobot ». Über eine kreisrunde Öffnung an der Seite der Apparatur trägt sie einen winzigen Tropfen ihrer Probenlösung auf. Zwei Geräteteile, die aussehen wie Kopfhörer, schliessen sich danach um das Gitter. «Sie entfernen überschüssiges Wasser aus der Probe», erklärt Poghosyan.
Dann kommt der Temperaturschock: Die Pinzette taucht das beschichtete Gitter blitzschnell in ein Behältnis mit einer minus 196 Grad Celsius kalten Flüssigkeit. Es handelt sich dabei um Ethan, welches mit flüssigem Stickstoff gekühlt wird. Die Probe erstarrt im Bruchteil einer Sekunde. «Es ist wichtig, dass das besonders schnell passiert, denn ansonsten können sich Eiskristalle bilden, welche die Probe zerstören», erklärt die Wissenschaftlerin.
Elektronen können dicke Eiskristalle nicht durchdringen, weshalb solche Bereiche in der Aufnahme später schwarz erscheinen – dieser Teil des Bildes ist dann ruiniert. Kühlt man Wasser hingegen sehr schnell ab, erstarrt es, ohne zu kristallisieren. Es entsteht glasartiges Wasser, welches wie eine Flüssigkeit eine ungeordnete molekulare Struktur aufweist und von den Elektronenstrahlen durchdrungen wird.
Ziel ist es, dass die Probenmoleküle gleichmässig verteilt in den Löchern des Gitters vorliegen, umgeben von einer möglichst dünnen Schicht glasartigen Eises. Die Probenfilme dürfen dafür nicht dicker sein als die Biomoleküle selbst. «Das Vorbereiten der Probengitter ist eine Wissenschaft für sich», sagt die Biophysikerin. «Es gibt kein Allgemeinrezept. Man muss einfach immer neue Bedingungen probieren, bis man die idealen für ein bestimmtes Molekül gefunden hat.»
Die Entwickler der Kryo-Elektronenmikroskopie, der Schweizer Chemiker Jacques Dubochet sowie Joachim Frank und Richard Henderson, wurden 2017 für ihre Arbeit mit dem Chemienobelpreis ausgezeichnet. Dubochet war dabei derjenige, der den Trick mit dem kristallfreien Wasser entdeckte.
Aha-Effekt kommt später
Unter Stickstoffkühlung und entsprechend viel Dampf überträgt Emiliya Poghosyan ihr Grid in den gekühlten Halter des Elektronenmikroskops und schiebt ihn ins übermannshohe Gerät. Dann schüttet sie noch fleissig flüssigen Stickstoff nach. «Man braucht Geduld, wenn man mit Kryo-Elektronenmikroskopie arbeitet», sagt sie und lacht. «Wartet man nicht, bis alle Apparaturen genügend abgekühlt sind, wird die Probe zerstört und alle Arbeit war umsonst.»
Schliesslich kann sie im Nebenraum ihre Probe auf dem Monitor betrachten und Aufnahmen machen. Ein einzelnes Bild beeindruckt dabei wenig: Im Grunde sieht man lediglich viele kleine gräuliche Flecken auf hellem Hintergrund. Diese Flecken sind die Proteinmoleküle. Der Aha-Effekt kommt bei der nachträglichen Datenauswertung: Dabei wird über Millionen von Molekülen aus ein paar Tausend Aufnahmen gemittelt. So wird das Protein von allen Seiten erfasst, da in einer Probe idealerweise Millionen Moleküle in vielen verschiedenen Orientierungen vorliegen. Durch das Zusammenbauen all dieser Informationen entsteht ein dreidimensionales Modell des Proteins in bemerkenswerter Genauigkeit. «Es ist erstaunlich, wie aus diesen Aufnahmen so präzise 3-D-Modelle entstehen können», sagt Emiliya Poghosyan.
Auch ohne Kristall zum Erfolg
«Die Elektronenmikroskopie hat die Art, wie wir Strukturinformationen von Proteinen bekommen, revolutioniert», sagt Jacopo Marino, Biologe im PSI-Labor für biomolekulare Forschung. «Der ganze Vorgang geht inzwischen sehr schnell.»
Vor wenigen Jahren löste ein PSI-Team, an dem Jacopo Marino beteiligt war, die Struktur eines Komplexes, der aus dem Lichtrezeptor Rhodopsin und einem G-Protein besteht – Proteine in der Netzhaut, dank denen wir sehen können. Das Wissen darüber, wie der Rezeptor an das G-Protein andockt, gibt Hinweise darauf, wie die Signalweiterleitung in der Zelle funktioniert und wie sich dieser Prozess unter Umständen manipulieren liesse (siehe Infografik Seite 16). Mit der Kryo-Elektronenmikroskopie war die Struktur innert vier Monaten gelöst. Und selbst das ist noch vergleichbar lang. «Bei biochemisch gut handhabbaren Proteinen können wir die Struktur sogar innerhalb weniger Tage in der Hand halten.»
Da der Komplex aus mehreren Proteinen besteht, ist er sehr flexibel – das stand einer Röntgenkristallografie im Weg. Denn für diese hätte man Kristalle des Komplexes gebraucht, und die waren auch mit jahrelanger Arbeit nicht zu bekommen.
Allerdings ist es derzeit noch nicht möglich, sehr kleine Biomoleküle mit Kryo-Elektronenmikroskopie zu untersuchen, sagt Emiliya Poghosyan. Die Struktur des Proteins Rhodopsin alleine etwa ist damit nicht zu entschlüsseln. Darüber hinaus ist die Auflösung bei der Röntgenkristallografie noch immer geringfügig besser.
Ergänzung statt Ersatz
Einen gewaltigen Fortschritt brachte die Kryo- Elektronenmikroskopie bei der Untersuchung von Membranproteinen wie Rezeptoren, die natürlicherweise in eine Zellmembran eingebettet sind und sich nur schwer in reiner Form isolieren, geschweige denn herstellen oder kristallisieren lassen. Eines der ersten Proteine, mit denen Chemienobelpreisträger Richard Henderson arbeitete, war Bacteriorhodopsin, ein Membranprotein in der Zellwand von bestimmten Bakterien. Jacopo Marino nimmt mit der Methode momentan einen Ionenkanal unter die Lupe, der in der Signalweiterleitung beim Sehprozess eine grosse Rolle spielt.
Schon sehr geringe Mengen Protein reichen für eine Kryo-Elektronenmikroskopie aus. Das erleichtert und verkürzt die Arbeit gerade bei Molekülen, die mühsam aus Geweben und Zellen isoliert werden müssen. Auch müssen die Proben nicht pingelig sauber sein.
Verdrängen allerdings wird die Kryo-Elektronenmikroskopie die Röntgenkristallografie an der SLS und am SwissFEL nicht. «Die beiden stehen nicht in Konkurrenz zueinander», betont Marino. «Sie ergänzen sich. Beide haben ihre Stärken und Grenzen.»