Klimaerwärmung verändert Ökosysteme von Gletscherbächen
Die Ökosysteme der von Gletschern gespeisten Flüsse haben über Jahrtausende hinweg nährstoffarme und raue Umweltbedingungen überstanden, doch nun werden sie durch den Klimawandel in einem noch nie dagewesenen Tempo verändert. Zu diesem Schluss kommen zwei Studien, die von Forschenden des Labors für Flussökosysteme (RIVER) der EPFL veröffentlicht wurden. RIVER ist Teil der EPFL-Fakultät für Bau, Architektur und Umwelt (ENAC). Die Studien wurden in Zusammenarbeit mit dem Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB) der Universität Luxemburg und der King Abdullah University of Science and Technology durchgeführt. Die erste Studie beleuchtet die Vielfalt und die Anpassungsstrategien des Mikrobioms in Gletscherbächen, während die zweite Studie zeigt, dass sich der Abbau organischer Stoffe in Gletscherbächen beschleunigt und sich die Struktur des Mikrobioms mit dem Rückgang der Gletscher verändert. Da die organische Substanz schneller abgebaut wird, könnten Gletscherbäche für den natürlichen Kohlenstoffkreislauf an Bedeutung gewinnen.
Bach am Fusse des Shkhelda-Gletschers im Kaukasus, fotografiert vom Team des RIVER-Labors, das Biofilm-Proben genommen hat. © Matteo Tolosano/ EPFL
Von der grünen Oase zum Wald
Der Klimawandel führt dazu, dass die Frühjahrs- und Herbstsaison in Gletscherbächen länger dauert. Laut der ersten Studie, die in Nature Communications veröffentlicht wurde, hat diese Verschiebung erhebliche Auswirkungen auf das Mikrobiom des Ökosystems, das bisher während der kurzen Perioden im Frühjahr und Herbst einer «grünen Oase» glich. In Zukunft könnte sich das Mikrobiom in eine Art «Wald» verwandeln: «Diese Jahreszeiten sind wichtige ökologische ‹Gelegenheitsfenster›󠅒 in gletschergespeisten Bächen mit weniger rauen Umweltbedingungen. Dadurch können sich Primärproduzenten vermehren, die die Energiegrundlage der mikrobiellen Nahrungskette bilden», sagt Prof. Tom Battin, Leiter von RIVER und korrespondierender Autor beider Veröffentlichungen.
Neben dieser Entdeckung wirft die Studie auch ein neues Licht auf etwas, das bisher eine Blackbox war: das Mikrobiom in diesen Ökosystemen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verstehen nun besser, wie die verschiedenen Mikroorganismen in einer so nährstoffarmen Umgebung mit abwechselnden Perioden von Gefrieren, Schmelzen und starker UV-Strahlung miteinander konkurrieren oder sich gegenseitig beim Überleben helfen.
Das Team des RIVER-Labors bei der Arbeit auf dem Antisana, einem 5758 Meter hohen Stratovulkan in den Anden, Ecuador. © Matteo Tolosano/ EPFL
Schleimige Megastädte
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entschlüsselten auch mögliche metabolische Interaktionen zwischen Algen und Bakterien und zeigten, dass Biofilme Futterströme intern recyceln können. Dies scheint eine wichtige Anpassung zu sein, um in einem energiearmen Ökosystem zu überleben. «Forschende in unserem Fachgebiet bezeichnen Biofilme als ‹schleimige Megastädte›, da sie die Heimat von Millionen von mikrobiellen Bewohnern sind, die in Schleim eingekapselt und an Felsen angeheftet sind», sagt Battin. «Wir konnten beobachten, wie die verschiedenen Arten zusammenarbeiten, um zu überleben.» Weitere wichtige Entdeckungen des RIVER-Teams waren ein unerwartet reichhaltiges Virom und genomische Merkmale, die erklären könnten, wie sich die Bakterien gegen eisige Temperaturen schützen können.
Camp des RIVER-Laborteams am Fuss des Ama Dablam, der mit 6812 Metern ihren Höhepunkt erreicht, in Nepal, in der Everest-Region. © Matteo Tolosano/ EPFL
Beschleunigung des Kohlenstoffkreislaufs
In der zweiten Studie, die in der Zeitschrift Global Change Biology veröffentlicht wurde, fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heraus, dass organisches Material in 101 Gletscherbächen weltweit schneller abgebaut wird, wenn die Gletscher schrumpfen. «Wir können davon ausgehen, dass die Nahrungskette in Gletscherbächen in Zukunft grüner werden wird, da die Primärproduktion an Bedeutung gewinnt», so Battin. «Mit dieser Veränderung werden einige mikrobielle Spezies verschwinden, andere werden gedeihen, und es wird eine Verschiebung entlang der gesamten Nahrungskette geben.» Die Quintessenz dieser Studie ist, dass mit dem Schrumpfen der Gletscher ihre Bäche zu wichtigeren natürlichen Quellen für CO2 in der Atmosphäre werden könnten.
Grönland. © Myke Styllas / EPFL
Letzter Halt: Alaska
Ermöglicht wurde diese Forschung durch das Vanishing Glaciers Project – ein vierjähriges Projekt, das an der EPFL angesiedelt ist und von der NOMIS Foundation finanziert wird. Im Rahmen dieses Projekts begannen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von RIVER im Jahr 2018 mit der Beprobung von gletschergespeisten Bächen auf der ganzen Welt mit dem Ziel, die Biodiversität in diesen verschwindenden Ökosystemen zu entschlüsseln: «Dank unserer einzigartigen Anstrengungen, die intensive Expeditionen mit Genomanalysen kombinieren, waren wir die ersten, die das Mikrobiom dieser Ökosysteme systematisch untersucht haben, die sich nun mit dem Abschmelzen der Gletscher verändern», sagt Battin.
Die «Vanishing Glaciers»-Expedition wird bald zu Ende gehen und in diesem Sommer zum letzten Mal in Alaska Station machen. Die Forschenden haben erst 20 % der Daten ausgewertet, die sie bisher von über 150 Gletscherbächen weltweit gesammelt haben. Künftige Analysen werden genau untersuchen, wie sich das Mikrobiom verändert – und welche weitreichenden Auswirkungen das hat.
Das RIVER Laborteam in den Rwenzori Mountains, Uganda. © Matteo Tolosano/ EPFL