«Es wurde höchste Zeit»
Vom 2. bis 7. Oktober findet in Crans-Montana im Kanton Wallis die IPICS-Konferenz statt. IPICS steht für International Partnership in Ice Core Sciences. Die internationale Gemeinschaft der Eiskern-Forschenden trifft sich seit 2012 alle vier Jahre, um sich über die neusten Entwicklungen ihrer Disziplin auszutauschen. Mit speziellen Bohrern gewinnen sie von polaren Eisschilden und Gletschern weltweit Eiskerne, um aus den eingeschlossenen Luftbläschen und Schwebstoffpartikeln die Klimabedingungen und die Zusammensetzung der Atmosphäre vergangener Zeitalter zu rekonstruieren. Eigentlich war das diesjährige Treffen schon für 2020 geplant. Es musste wegen der Corona-Pandemie jedoch zwei Mal verschoben werden. Margit Schwikowski, Leiterin des Labors für Umweltchemie am Paul Scherrer Institut PSI, ist Vorsitzende des Organisationskomitees der IPICS-Konferenz.
Frau Schwikowski, mit zwei Jahren Verzögerung kann die IPICS-Konferenz nun endlich stattfinden. Warum hat sich nach Frankreich und Tasmanien dieses Mal die Schweiz als Ausrichtungsort qualifiziert?
Margit Schwikowski: In der Tat müssen sich die Kandidaten für die Austragung dieser Konferenz erst einmal bewerben – das ist bei uns ähnlich wie bei den Olympischen Spielen (lacht). Von daher sind wir stolz, dass wir den Zuschlag erhalten haben. Eine Stärke unserer Bewerbung war, dass wir beide Disziplinen der Eiskernforschung vereinen – ich als Vertreterin des PSI stehe für die Erforschung von hochalpinen Gletschern. Und der Co-Vorsitzende unseres Organisationskomitees, Hubertus Fischer von der Universität Bern, vertritt die Riege der polaren Eiskernforschenden. Wir haben ein spannendes Programm für beide Seiten zusammengestellt und möchten damit den Austausch weiter vorantreiben.
Können Sie ein paar Highlights nennen?
Ein wichtiges Projekt, zu dem wir Neues hören werden, ist „Beyond EPICA“. EPICA steht für das European Project for Ice Coring in Antarctica, also das europäische Eiskernbohrprogramm in der Antarktis. Dieses hat bereits über 3200 Meter tief in das antarktische Eismassiv gebohrt und daraus mit rund 800 000 Jahren die bisher längsten kontinuierlichen Zeitreihen der Treibhausgaskonzentrationen rekonstruiert. Die Berner Arbeitsgruppe um Hubertus Fischer hat dabei eine Grosszahl dieser Treibhausgasmessungen durchgeführt. Daraus kann man zum Beispiel viel über die Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeiten oder über schnelle Klimaschwankungen erfahren. „Beyond EPICA“, an dem die Berner Kollegen und Kolleginnen wieder massgeblich beteiligt sind, bricht diesen Winter erneut in die Antarktis auf, um noch weiter in die Vergangenheit zu gehen. Dabei soll an einer Stelle gebohrt werden, wo man vermutet, am Felsgrund bis zu 1,5 Millionen Jahre altes Eis finden zu können.
Was könnte uns dieses Eis verraten?
Aus einem anderen Klimaarchiv – nämlich den Meeressedimenten, die noch weiter in die Vergangenheit zurückreichen, aber nicht so präzise Aufschlüsse über das damalige Klima geben – wissen wir, dass bis vor ungefähr einer Million Jahren ein Eiszeitzyklus noch etwa 40 000 Jahre dauerte, er dann aber auf eine Periodizität von rund 100 000 Jahren wechselte. Beyond EPICA könnte uns die Gründe dafür verraten, womöglich etwa Veränderungen in der CO2-Konzentration der Atmosphäre. Solche Informationen helfen uns, aktuelle Klimaveränderungen besser zu verstehen. Deshalb werden wir auf dieser Konferenz auch über das Thema der Meeressedimente sprechen und über neue Bohrtechniken, die uns helfen, besser und weiter in die Vergangenheit zu schauen. Darüber hinaus wird es noch einen Vortrag über das vergleichsweise junge Forschungsgebiet der Mikroorganismen in den tiefen Eisschichten geben. Unter anderem zeigt diese Disziplin: In den Eiskernen stecken noch viel mehr Informationen über die Erdgeschichte und das Klima der Vergangenheit – wir fangen gerade erst an, diesen wissenschaftlichen Schatz zu heben.
Vor diesem Hintergrund ist sicher auch das Projekt Ice Memory zu sehen, an dem Sie beteiligt sind. Damit sollen Eiskerne von alpinen Gletschern weltweit gebohrt und in der gesicherten Kälte einer Eishöhle in der Antarktis eingelagert werden. So soll dieses Klimaarchiv für zukünftige Forschergenerationen erhalten bleiben, die dann mit neuen Methoden weitere Erkenntnisse gewinnen können.
Absolut. Die Tatsache, dass immer mehr Gletscher weltweit schmelzen und das einsickernde Schmelzwasser die Signaturen der über Jahrtausende geschichteten Einschlüsse zerstört, ist ein riesiges Problem für unseren Forschungszweig. Die Zeit läuft. Das haben wir nicht nur am Grand Combin hier in der Schweiz gesehen, wo wir vor zwei Jahren gebohrt haben und feststellten, dass die Eiskerne kaum mehr zu gebrauchen sind. Vergangenes Jahr waren wir am noch höher gelegenen Colle Gnifetti an der italienischen Grenze – dem letzten Gletscher der Alpen, wo wir hofften, noch ungestörte Signaturen zu finden. Und was soll ich sagen: Der Gletscher hat sich stark verändert, seit ich 2015 das letzte Mal dort war. Anstatt auf 4450 Metern Höhe durch den Schneefirn zu stapfen, sind wir auf der vereisten Oberfläche ausgerutscht und mussten uns für den Aufstieg zur Margherita-Hütte anseilen und Stufen ins Eis schlagen, weil es sonst zu gefährlich gewesen wäre.
Eis ist doch gut für Ihre Zwecke, oder nicht?
Aber obenauf sollte es lockeren Schneefirn haben. Wenn die Oberfläche aus Eis besteht, zeigt uns dies, dass sich in den oberen Schichten Schmelzwasser gebildet hat, welches eventuell auch eingesickert ist und in tieferen Schichten des Gletschers die Signatur verzerrt hat. An ein paar Tagen im Jahr, wenn das Schmelzwasser schon knapp unter der Oberfläche wieder gefriert, ist das nicht so schlimm. Aber unsere Kollegen von der Glaziologie haben dieses Jahr gemessen, dass der Gletscher noch in vier Metern Tiefe null Grad warm war. Solche hohen Temperaturen wurden an der Stelle noch nie beobachtet. Wir sind froh, dass wir dort letztes Jahr noch Eiskerne mit guter Qualität bohren konnten. Aber das war womöglich tatsächlich die letzte Gelegenheit. Der diesjährige Sommer war so extrem warm – für die Gletscher und unsere Forschung ist das die reinste Katastrophe. Wahrscheinlich hat allein dieses eine Jahr auch das Klimaarchiv am Colle Gnifetti beeinträchtigt.
Wird es zu Ice Memory auch eine Veranstaltung auf der Konferenz geben?
Die Klimaproblematik überschattet natürlich alles. Aber konkret zu Ice Memory halten wir nach der Konferenz einen Workshop ab, in dem wir besprechen, wie es weitergeht. Wir wollten dieses Jahr am Gletscher des Kilimandscharo einen Eiskern bohren, bevor dieser einzige verbliebene grosse Gletscher Afrikas womöglich unbrauchbar wird – vielleicht ist er es sogar schon. Wir haben jedoch trotz grösster Bemühungen keine Genehmigung von den tansanischen Behörden erhalten. Ein herber Rückschlag.
Herrscht womöglich Untergangsstimmung unter den Eiskernforschenden, wenn sie immer deutlicher sehen, dass Ihnen Ihr Forschungsgegenstand allmählich unter den Schneeschuhen wegschmilzt?
Das ist in der Tat so. Und bei jenen, die an hochalpinen Gletschern arbeiten, ist das besonders ausgeprägt. Die polaren Eiskernforschenden haben da noch etwas mehr Zeit – wobei die Schmelze etwa auf Grönland auch immer heftiger und die Arbeit entsprechend schwieriger wird. Umso wichtiger ist es, dass wir uns jetzt endlich alle wieder auf der Konferenz treffen und unsere Arbeit vorantreiben. Zumal wir dort zusammen immer wieder trotz alledem gute Laune entwickeln und uns gegenseitig motivieren. Die Eiskerncommunity ist zwar klein – weltweit sind wir wohl nicht mehr als tausend Forschende. Aber wir sind eine eingeschworene, fröhliche Gemeinschaft. Wir arbeiten hart – mitunter wochenlang bei minus 20 Grad – auf Berggletschern oder den Eisschilden und bohren unter oft schwierigen Bedingungen. Aber dann wird zum Ausgleich gefeiert. Und das tun wir auch bei der Konferenz nach getaner Arbeit.