Eine Prioritätenliste für den Schutz der Artenvielfalt
Die Artenvielfalt geht sowohl weltweit als auch in der Schweiz in einem historisch beispiellosen Tempo zurück. Das gilt in besonderem Mass für die in und an Gewässern lebenden Pflanzen und Tiere. 65 Prozent der in der Schweiz heimischen Fischarten sind gefährdet oder potenziell gefährdet; ungefähr 20 Arten sind in den letzten 100 Jahren bereits ausgestorben. Davon kamen 14 nur in der Schweiz vor und sind damit nun weltweit verschwunden. Ausserdem sind 62 Prozent der Gewässerinsekten und über die Hälfte der an Gewässer und Moore gebundenen Pflanzenarten gefährdet oder bereits ausgestorben.
Die Gründe für den Artenschwund sind vielfältig. Sie reichen von der Verbauung der Gewässer für den Hochwasserschutz und die Nutzung der Wasserkraft über die Beeinträchtigung der Wasserqualität durch Nähr- und Schadstoffe bis zum Klimawandel. Die Schweiz hat in verschiedenen Strategien und Gesetzen Ziele und Massnahmen definiert, um dem Rückgang der Arten Einhalt zu gebieten – allen voran in der Biodiversitätsstrategie und dem dazu gehörigen Aktionsplan sowie im Gewässerschutzgesetz. Aber die Umsetzung der Massnahmen hinkt den Zielen hinterher, unter anderem weil die finanziellen Mittel knapp sind, weil es Zielkonflikte gibt – etwa mit der Energiegewinnung – und weil die Daten zur Artenvielfalt und deren Ansprüchen lückenhaft sind. Umso wichtiger ist es, dass die Massnahmen, die zum Schutz und zur Förderung der Artenvielfalt realisiert werden können, möglichst wirksam sind.
Regionen mit dem grössten Handlungsbedarf identifizieren
Hier setzt das Forschungsprojekt «Lanat-3» an, das von der Wyss Academy for Nature an der Universität Bern, vom Kanton Bern und dem BAFU finanziert und von Forschenden der Universität Bern, des Schweizerischen Kompetenzzentrums Fischerei und des Wasserforschungsinstituts Eawag geleitet wird. Ziel des Projekts ist es, die Regionen zu identifizieren, wo der Handlungsbedarf zum Schutz der Gewässer-Artenvielfalt am grössten ist und dort die Schutz- und Fördermassnahmen möglichst optimal und zielgerichtet zu planen. Die Forschenden konzentrieren sich dabei auf Fische und Gewässerinsekten und zunächst auf das Einzugsgebiet von Aare und Rhein.
In einem ersten Schritt erfassten und modellierten sie, wo im Einzugsgebiet welche Fisch- und Gewässerinsektenarten vorkommen. Die Grundlage dafür bilden Erhebungen von Artenvorkommen. Aus den Fundorten lässt sich schlussfolgern, welche Umweltfaktoren eine bestimmte Art braucht, damit ein Standort für sie geeignet ist. So weiss man etwa aus Befischungen, dass der Schneider schnell fliessende, sauerstoffreiche Flüsse bevorzugt und sich dort in hindernisfreien Bereichen aufhält. Mit Hilfe dieses Wissens lässt sich dann das Vorkommen des Schneiders auf Standorte extrapolieren, für die es bisher noch keine Artenerhebungen gibt. Die Grundlage dafür bilden Karten der Umweltfaktoren im gesamten Einzugsgebiet von Aare und Rhein – dazu gehören etwa Temperatur, Fliessgeschwindigkeit oder der Grad der Urbanisierung.
Auf diese Weise wurden für rund 50 Arten an Gewässerinsekten und 40 Fischarten die für sie geeigneten Standorte im Einzugsgebiet ermittelt. Die Karten unten zeigen, dass die Vielfalt an Gewässerinsekten in kleineren Flüssen und höheren Lagen am höchsten ist, während Seen, grössere Flüsse und deren unverbaute Zuflüsse in niederen und mittleren Lagen die meisten Fischarten beherbergen.
Welche Umweltfaktoren haben den grössten Einfluss auf das Vorkommen von Arten?
Gleichzeitig lässt sich aus diesen Daten auch ableiten, welche Umweltfaktoren den grössten positiven oder negativen Einfluss auf das Vorkommen einer bestimmten Art haben. Dafür simulierten die Forschenden mit Hilfe von Modellen, die auf künstlicher Intelligenz (KI) basieren, wie die Verteilung der Arten ohne menschliche Einflüsse aussehen würde – also in natürlichen Flüssen mit unbesiedelter Umgebung. So lässt sich einerseits sehen, wo der Unterschied zwischen tatsächlichem und theoretisch erwartetem Vorkommen einer Art am grössten ist und welche Faktoren für diese Differenz ausschlaggebend sind.
Im ersten Teil des 2020 gestarteten Projekts konzentrierten sich die Forschenden dabei auf die Region Untere Emme, die sich zwischen Burgdorf BE und Zuchwil SO erstreckt. Die Abbildung unten zeigt die Ergebnisse der Simulationen für eine der untersuchten Fischarten, den Schneider. Auf das Vorkommen dieser Fischart wirkt sich vor allem die fehlende Durchgängigkeit der Flüsse auf Grund von Hindernissen («Konnektivität») negativ aus. Die Abflussmenge hingegen ist zumindest entlang der Hauptachsen des Gewässersystems Untere Emme gut geeignet für den Schneider, weniger hingegen in den Zuflüssen zur Emme. Die Gewässertemperatur als weiterer, untersuchter Faktor ist in einem guten Bereich für den Schneider, die Flussmorphologie hingegen hat kaum Einfluss auf sein Vorkommen.
Das gleiche lässt sich nicht nur für den Schneider, sondern für die ganze in einer Region vorkommende Artengemeinschaft ermitteln. Wie verschiedene Arten auf Umweltfaktoren reagieren, kann dabei sehr unterschiedlich sein. Auf diese Weise können Kantone und Gemeinden Massnahmen genau dort planen und umsetzen, wo sie am meisten zum Schutz und zur Förderung der Biodiversität beitragen.
Ausweitung auf weitere Arten in der zweiten Projektphase
In der jetzt angelaufenen zweiten Phase des Projekts möchten die Forschenden noch mehr Arten in ihre Modelle einbeziehen, um deren Aussagekraft weiter zu verbessern und um vor allem alle Arten schützen zu können. «Dafür möchten wir bisher nicht genauer differenzierte Artengruppen detaillierter aufschlüsseln und vor Ort in den Gewässern untersuchen, um die Bedürfnisse dieser Arten zu verstehen» erklärt Dario Josi, Co-Leiter des Forschungsprojekts an der Eawag und der Universität Bern. Ausserdem möchten sie den Einfluss des Klimawandels einbeziehen und ermitteln, in welchen Regionen innerhalb des Aare-Rhein-Einzugsgebiets dadurch der grösste Artenverlust zu erwarten ist bzw. welche Regionen zu umso wichtigeren Refugien für die Artenvielfalt werden.
Zwei solche Regionen mit grossem Handlungsbedarf sollen demnächst als Pilotregionen ausgewählt werden, in welchen die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt die Kantone dabei unterstützen sollen, die Prioritäten bei der Planung von Revitalisierungen möglichst optimal zu setzen. Das Projekt will aber noch einen Schritt weitergehen und die Pilotregionen bei der möglichst optimalen Umsetzung von Revitalisierungsprojekten unterstützen. Dafür werden die Forschenden eruieren, welche Anspruchsgruppen einbezogen werden müssen und versuchen, deren Informationsaustausch und Zusammenarbeit zu optimieren. So soll das Forschungsprojekt dazu beitragen, dem Artenschwund dort entgegenzuwirken, wo es am meisten Wirkung erzielt und ausserdem die erforderlichen Massnahmen möglichst schnell und effizient in die Wege zu leiten. Schlussendlich soll so ein Workflow erprobt werden, der am Ende des Projektes der kantonalen Revitalisierungsplanung zur Verfügung gestellt wird.