Ein bisschen Pioniergeist würde uns nicht schaden
In der «Welt» war kürzlich von der «ersten Dunkelflaute» zu lesen. Ist so etwas auch in der Schweiz möglich?
Auch in der Schweiz gibt es natürlich wind- und sonnenarme Tage. Hier be steht die elektrische Energieversorgung je doch zu rund 60 % aus Wasserkraft, die diese ausgleicht. In Deutschland hat man entschieden, alle Kernkraftwerke abzuschalten, ob wohl man energie politisch für diesen Schritt nicht bereit war. In der Schweiz haben wir uns auch den Ausstieg aus der Kerne nergie zum Ziel gesetzt, aber keine verbindlichen Abschalttermine festgelegt.
Klimaschädliche Kraftwerke hochzufahren scheint eine unglückliche Lösung.
Unbedingt. Doch in der Schweiz haben wir keine Kohlekraftwerke, die in Deutschland nach wie vor einen bedeutenden Anteil am Strommix ausmachen. Natürlich müssen auch wir jahres zeitliche Schwankungen ausgleichen können, denn die Photovoltaik aus dem Mittelland liefert etwa 75 % der produzierten Energie im Sommer und 25 % im Winter.
Wie funktioniert dieser Ausgleich?
Es gibt zwei Hauptkomponenten. Die Stauseen unserer Wasserkraftwerke sind grosse Energiespeicher und bieten saisonale Flexibilität in der Stromerzeugung. Zudem erlaubt es unsere Anbindung ans internationale Stromnetz, im Winter Strom zu importieren und im Sommer zu exportieren. Das hat sich historisch so ergeben, weil andere Länder im Winter einen Überschuss an elektrischer Energie haben. Da unsere Nachbarländer künftig mehr auf Winterproduktion setzen, z. B. von Windparks, die von den stärkeren Winden im Winter profitieren, gibt es auch weiterhin Synergien.
Wie sieht es mit kurzfristigeren Fluktuationen aus?
Die gibt es natürlich immer, auf Produktions- und Verbrauchsseite. Wir gleichen diese hauptsächlich mit Wasserkraft aus, da man die Produktion relativ einfach verändern kann. Kernkraftwerke dagegen liefern sogenannte «Bandenergie». Diese fährt man eher ungern rauf und runter, weil es auch die Kosteneffizienz erhöht: hohe Auslastung bedeutet tiefere Kosten pro Kilowattstunde.
Wie erkennt man den aktuellen Strombedarf?
Angebot und Nachfrage werden im Voraus anhand von Bedarfsvorhersagen über den Strommarkt abgeglichen. Die Energieversorger planen also schon heute die Stromproduktion von morgen. Innerhalb des Tages werden diese Vorhersagen und Fahrpläne der Kraftwerke wiederum via Strommarkt angepasst. Es braucht aber auch noch einen Echtzeitausgleich, da Vorhersagen immer fehlerhaft sind. Ein Ungleichgewicht in Verbrauch und Erzeugung führt aufgrund von physikalischen Gegebenheiten zu einer Frequenzänderung. Diese kann überall im Netz gemessen und als Signal genutzt werden, um die Erzeugung kurzfris tig anzupassen.
Ihre Forschungsarbeit beinhaltet auch nicht zentralisierte Ansätze.
Auf der Höchstspannungsebene gibt es tatsächlich nur einen Akteur, der für den Zustand des Übertragungsnetzes verantwortlich ist: nämlich Swissgrid. Auf den tieferen Spannungsebenen gibt es verschiedene Betreiber, aber auch dort wird das Netz hauptsächlich zentral betrieben. In Zukunft muss das Netz aufgrund der verteilten Ressourcen dynamischer reguliert werden. Das beinhaltet auch die Steuerung der Verbraucherseite. Wenn man viele grössere Geräte in die Steuerung des Stromnetzes einbinden könnte, hätte man neue Spielräume: Das Elektroauto muss nicht immer genau dann geladen werden, wenn es eingesteckt wird. Idealerweise werden solche Steuersignale dezentral bestimmt.
Können die Netzbetreiber steuern, wann Strom fliesst?
Ja und nein. Es wäre tatsächlich eine Möglichkeit, die Kontrolle über gewisse flexible Verbraucher wie Elektroautos teilweise abzugeben. Im Gegenzug profitieren Konsumierende von gewissen Benefits, z.B. tieferen Energiekosten. Manche Drittanbieter erproben dies schon. In Bezug auf Datensicherheit und Privatsphäre ist das etwas heikel, da für die optimale Nutzung dieser Flexibilität Daten ausgetauscht werden müssen.
Was wäre eine Alternative?
Den Verbrauch mit fein abgestuften Stromtarifen zu regeln. Die Preise würden die aktuelle Lage im Stromnetz widerspiegeln, entsprechend automatisierte Ladegeräte darauf dynamisch reagieren ohne direkte Regelsignale zu erhalten oder viele Informationen zu teilen.
Stromfresser also besser bei tiefen Tarifen nutzen?
Genau. Aber immer im Bewusstsein, dass Stromkunden eine andere Motivation haben als Netzbetreiber. Die haben das Ziel, den Peak des Verbrauchs zu minimieren, um ihr System möglichst nicht ausbauen zu müssen. Kunden möchten einfach ihre Kosten minimieren. Es ist nicht ganz einfach, diese «Zielfunktionen» zusammenzubringen.
Sie sind unlängst zum Schluss gekommen, dass eine fossilfreie Energieversorgung technisch realisierbar sei.
Wir haben im Modell durchgerechnet, welche Ressourcen ein stabiles Schweizer Stromnetz braucht. Dabei schauen wir uns immer diverse Szenarien an und zeigen auf, welche Alternativen es gibt. Es zeigt sich: Es geht auch ohne Fossile und ohne AKWs. Uns war es wichtig, der politischen Debatte eine Faktenbasis zu liefern. Dass es dafür einen starken Ausbau der Erneuerbaren braucht und auch Im- und Export wichtig sind, versteht sich.
Was hat Sie als technische Expertin zu dieser Position bewogen?
In der Vergangenheit habe ich mich hauptsächlich mit rein technischen Fragen auseinandergesetzt. Nach meiner Rückkehr aus den USA, hat sich ein Teil meiner Arbeit auf die Energiesystemmodellierung fokussiert, d.h. wie das elektrische Energiesystem z. B. 2050 aussehen könnte, womit automatisch ein politischer Bezug entsteht. Aber ist es nicht auch die Rolle der Wissenschaft, sich mit Fakten zu solchen Fragestellungen zu äussern? Es war mir wichtig aufzuzeigen: Eine saubere Energiezukunft für die Schweiz ist auf verschiedene Weisen möglich.
Und wo stehen wir heute?
Auch wenn der Ausbau auf den Dächern gut vorwärts geht, harzt es gerade bei Windenergie und alpiner Photovoltaik. Dabei muss Solarstrom in den Bergen nicht in unberührte Landschaften eingreifen. Es braucht einen Trade-off zwischen Energieerzeugung und Landschaftsschutz. Etwas Pioniergeist, wie im frühen 20. Jahrhundert, würde uns nicht schaden.
Wie stehen Sie zur «Stromlücke»?
Das Wort ist unglücklich, da es eine Mangellage impliziert. Die Schweizer Energiepolitik war immer darauf ausgelegt, dass wir eingebunden sind ins europäische Netz und im Sommer exportieren und Winter importieren. Es ist sinnvoll, die Synergien mit unseren Nachbarländern zu nutzen, auch in Zukunft, um die Kosten möglichst tief zu halten. Der Import im Winter ist also nicht perse schlecht, sondern macht wirtschaftlich Sinn.
Also keine Stromausfälle?
In komplexen Stromnetzen kann es immer wieder zu Stromausfällen oder Blackouts kommen, leider. Beispiele gab es in den letzten Jahren auch in Europa. Das hat aber eher mit der Stabilität der Netze zu tun, da es extrem dynamische Systeme sind. Das ist herausfordernd und wird mit den erneuerbaren Energien sicher nicht einfacher, ist aber eben auch ungemein spannend.