Eine geologische Anomalie als Glücksfall für die Forschung
Er ist wie eine Wunde in der Landschaft. Der Illgraben. Er verläuft südlich ab dem Rhonetal, unweit von Siders. Eben noch Natur im Wechsel mit Zersiedelung, dann eine Mondlandschaft. Hier lässt die Geologie der Vegetation keine Ruhe, um sich auszubreiten. Viel zu oft kommen die Hänge ins Rutschen, viel zu locker ist das Gestein. Hier dominieren Fels und Geröll. Nur an der Südflanke des Grabens wachsen Bäume. So liegt das nackte Gestein zumeist offen da und ist dauernd dem Einfluss der Witterung ausgesetzt. Und die tut ihre Arbeit sehr gewissenhaft. Unten sorgt der Illbach für den Abtransport des Materials bis in die Rhone, was bei Niederschlägen regelmässig zur Eintrübung des Flusses führt. Wanderwege? Fehlanzeige. «Der Illgraben ist mit der menschenfeindlichste Ort, den ich kenne», sagt der WSL-Seismologe Fabian Walter.
Feindselig und unersetzbar
Menschenfeindlich vielleicht, dafür aber forschungsfreundlich. Die geologische Anomalie ist ein Glücksfall für die WSL. Man könnte auch sagen: Wenn es den Illgraben nicht gäbe, müsste man ihn als Testgelände nachbauen. Denn hier kann man Naturgefahren, die sonst nur punktuell auftreten und unkalkulierbar sind, fast schon nach Ansage studieren. «Im Illgraben gibt es bis zu ein Dutzend Murgänge pro Jahr beziehungsweise pro Sommer» sagt Walter. Deshalb betreibt die WSL seit 2000 das «Murgangtestgelände Illgraben», um mit verschiedenen Forschungsprojekten das Verständnis von Murgängen zu verbessern. Messgeräte im Bereich des Bachbetts registrieren Durchgangszeiten, Druck und Abflusshöhe jedes Murgangs. Walter hat seine Geräte dagegen überall im Gelände platziert, auch an Stellen fernab des Talbodens. Als Seismologe interessiert er sich besonders für die von den Murgängen ausgelösten Erschütterungen.
Das spezielle an Murgängen ist, dass sie viel Sediment mitführen, Schlamm und Steine. «Wasser allein kann auch gefährlich sein, aber nur Murgänge können Felsen in Autogrösse mit sich reissen.» Nicht zuletzt deswegen sind Murgänge «seismologisch sehr laut», wie es der Experte ausdrückt. Man kann sie also mit der üblichen Sensorik der Seismologen sehr gut detektieren, was ganz neue Ansätze für Alarmsysteme erlaubt. Die Seismografen messen auch in schwer zugänglichen Gebieten und registrieren Murgänge äusserst schnell.
Echtzeit-Analyse für ein schnelleres Warnsystem
Doch auch mit simpleren Methoden kann man Murgänge feststellen. Das kann ein Draht sein, der reisst, oder ein Pendel, das über dem Bachbett hängt und Alarm auslöst, sobald es bewegt wird. Aber diese Art von Sensoren zu montieren wäre eine Herausforderung; das wird angesichts der Mondlandschaft im Illgraben augenscheinlich. Dort, wo alles rutschig ist, sind feste Anlagen, nahe des Gerinnes, ein Widerspruch in sich. Mit im ganzen Illgraben verteilten Seis mografen dagegen lasse sich der Murgang schon viel weiter oben detektieren. Das verschafft wertvolle Zeit im Falle eines Alarms. Es könne gut 20 Minuten bis zu mehreren Stunden gehen, bis so ein Murgang unten in bewohntem Gebiet ankommt. Intelligente Algorithmen werten die seismischen Daten in Echtzeit aus und warnen sofort, wenn sich weit oben im Graben etwas zusammenbraut oder es zu rumpeln beginnt.
Zunächst müssen diese Algorithmen aber lernen, die Signale der Murgänge zu isolieren und richtig zu deuten. Dabei hilft seit neuestem künstliche Intelligenz: Walters Team ist dabei, entsprechende Modelle mit den Daten von gemessenen Murgängen zu trainieren. Dazu reichen 100 Beispieldatensätze, die die Expertinnen und Experten aus zehn bis zwanzig Ereignissen extrahieren können. Die Software lernt so, Murgänge als Anomalie im alltäglichen Erschütterungsrauschen zu identifizieren. Von vorbeitrampelndem Vieh, Verkehr und Industrielärm im Boden lässt sich der Alarm dann nicht mehr triggern.
Der Zauber liegt im Algorithmus
Derzeit seien sie daran, die Seismografen zu vereinfachen, um das System alltagstauglich und auch kommerziell interessant zu machen. «Für diese Anwendung brauchen wir gar keine Profi-Messgeräte, die gut 15 000 bis 20 000 Franken kosten können», sagt Walter. Die Magie steckt vor allem im Algorithmus. Was er im Illgraben gelernt hat, wird hoffentlich bald auch in anderen Alpentälern sehr von Nutzen sein. Insofern brachte der teilweise feuchte Sommer 2024 wichtige Messungen für die Forschung und für künftige Murgangvorhersagen, sagt Walter.
Glasfaser
Datenverarbeitung auf der Höhe der Zeit be deutet auch, dass man Signale plötzlich an unerwarteter Stelle findet. Dank einer engen Kollaboration mit der ETH Zürich und der Swisscom Broadcast AG erkundet die WSL gerade, ob man Glasfasern als Erschütterungssensoren bei der Überwachung von Naturgefahren nutzen kann. «Es kann gut sein, dass wir nie wieder ein Seismometer installieren müssen», sagt Fabian Walter. Denn wenn ein Erdbeben an der Glasfaserleitung zerrt, zeigt sich das als kleinste Störung im Signal. Diese Störungen lassen sich räumlich auflösen, und somit hat man ohne zusätzlichen Infrastrukturaufwand entlang einer Glasfaserleitung alle Meter oder Dezimeter virtuelle Messgeräte. Insofern gebe es kreuz und quer durchs Land bereits «Millionen von Seismometern», selbst über Pässe. Erste Testläufe beim Flüelapass haben gezeigt, dass das System Lawinenabgänge zuverlässig detektieren kann. In den nächsten Jahren soll die Methode laufend verfeinert werden.