Ein neues Leben für Laborratten
Nachdem domestizierte Ratten in den 1980er-Jahren noch Seltenheitswert hatten, sind sie inzwischen immer häufiger in Schweizer Haushalten anzutreffen. Tatsächlich sind diese ungewöhnlich geselligen, schlauen und neugierigen Tierchen aufgrund ihres Verhaltens geschätzte Begleiter, sofern sie denn die Zeit und den Platz erhalten, den sie brauchen. Angesichts dieser Feststellung hat die EPFL beschlossen, sich mit dem Schweizer Tierschutz (STS) zusammenzuschliessen, um mehrere Laborratten, die keine Verwendung mehr finden, «zur Adoption freizugeben».
2020 machten Ratten 9.5% aller Versuchstiere in der Schweiz aus und rangierten damit hinter Mäusen und Vögeln. Ratten sind äusserst lernfähig und werden hauptsächlich für Verhaltensexperimente verwendet. In den Tierbehausungen der EPFL befinden sich aktuell rund 350 Vertreter ihrer Art. Die genaue Zahl richtet sich jedoch stets nach dem wissenschaftlichen Bedarf. Die Ratten werden in speziellen Bereichen geboren und aufgezogen und kennen nur das Leben im Labor, in dem ihr Dasein im Übrigen auch endet. Die meisten Versuche dieser Art verstehen sich als «terminale» Experimente. Mit anderen Worten werden die Tiere schlussendlich eingeschläfert, um Gewebe und Organe für wissenschaftliche Zwecke zu entnehmen. Doch das ist nicht das Los aller Nagetiere – einigen von ihnen wird jenseits aller Versuchsanlagen ein neues Leben geschenkt.
Neuheit in der Westschweiz
Die in Frankreich bereits weit verbreitete Praxis der Vermittlung von Labortieren wurde 2018 von der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit dem STS in der Schweiz möglich gemacht. Das dabei eingeführte Programm zur Förderung der Vermittlung hat ermöglicht, mehr als 300 Ratten, die die nicht gentechnisch verändert und/oder für Versuche verwendet wurden, die mittlere bis schwere Auflagen nach sich ziehen, neuen Halterinnen und Haltern zuzuführen. Die Initiative ist in der Schweiz bislang einmalig. «Als ich sah, was in Zürich möglich war, trat ich im Februar 2021 an den Leiter des Centre de PhénoGénomique der EPFL (verwaltet Tierkäfige und überwacht Tierversuche) heran, um abzuklären, ob auch wir ein solches Programm durchführen können. Er war begeistert – genauso wie der STS. Die Aushandlung der Bedingungen und die logistischen Erwägungen waren zeitaufwendig, aber jetzt sind wir so weit», macht Alexandre Widmer, Koordinator der Umsetzung der 3R-Prinzipien an der EPFL und Verwalter des Vermittlungsprogramms, deutlich.
Gemäss der Vereinbarung spendet die EPFL dem STS Ratten, die gezüchtet oder für die Laborforschung verwendet wurden, aber nicht länger benötigt werden. Die EPFL übernimmt dabei die ersten 30 Tage auch einen Teil der Kosten für die Haltung. Der STS achtet nach Übergabe der Ratten darauf, dass die Tiere artgerecht eingewöhnt werden, und verpflichtet sich, Halterinnen und Halter zu finden, die für die langfristige Unterbringung und Versorgung der Ratten geeignet sind. Die Erfahrung der Universität Zürich zeigt, dass Ratten stets innerhalb dieses 30-tägigen Zeitfensters adoptiert werden.
«Die Unterzeichnung dieser Vereinbarung ist ein Schritt in die richtige Richtung», freut sich Julika Fitzi, Tierärztin und Leiterin Fachstellen Tierversuche und Tierärztliche Beratungsstelle des STS. «Alle und insbesondere für die Forschung verwendeten Tiere sollten die Möglichkeit erhalten, nach Ende ihrer «Versuchsmission» ein neues Leben zu beginnen.» Die Ratten der EPFL werden unverzüglich zu einer Aussenstelle des STS gebracht, die auf Unterbringung und Vermittlung von Ratten spezialisiert ist. Die Rede ist vom Club der Rattenfreunde im Kanton Aargau. Eine weitere Aussenstelle in Brügg im Berner Jura könnte die Tiere der EPFL ebenfalls letztlich aufnehmen und zur Vermittlung freigeben.
«Diese Idee ist hervorragend»
Auch die Forschungslaboratorien, die im Rahmen einer besonders strengen und überwachten Versuchslizenz als Eigentümer der Tiere gelten, machen aus ihrer Begeisterung keinen Hehl. Ein Wissenschaftler, dessen Forschungsgruppe Ratten für das Vermittlungsprogramm liefern könnte, zeigt sich überrascht davon, dass ein solches Konzept möglich ist und sich an der Universität Zürich bereits bewährt hat. «Wir versuchen bereits, nicht mehr benötigte Tiere an andere Gruppen weiterzugeben, um eine ‹Verschwendung› zu vermeiden. Doch ich hätte niemals gedacht, dass es auch ausserhalb der Forschung möglich sein würde, für so viele Tiere ein neues Heim zu finden. Diese Idee ist hervorragend.»
Julika Fitzi, Leiterin Fachstellen Tierversuche und Tierärztliche Beratungsstelle des STS, in den Tierbehausungen der EPFL. © Alain Herzog, EPFL
Für Julika Fitzi, deren Organisation einräumt, dass bestimmte Aspekte von Tierversuchen – insbesondere sofern sie mit der Verbesserung des Wohlergehens der Tiere zusammenhängen – nützlich sind und noch nicht vollständig durch andere Methoden ersetzt werden können, besteht die Herausforderung bei der Vermittlung in der Art und Weise, in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschung betreiben. «Da ist noch viel sachbezogene Arbeit erforderlich. Hier geht es nicht nur um Vermittlung, sondern auch darum, eine Culture of Care zu pflegen. Bevor Forschende einen Versuch durchführen, sollten sie bereits überlegen, was mit dem Tier letztlich geschieht. Mit anderen Worten: ob es eine Möglichkeit gibt, das Tier an neue Halterinnen und Halter zu vermitteln, und wie viel das gegebenenfalls kosten würde. Ich weiss, dass das nicht einfach ist. Forschende machen sich darum überhaupt keine Gedanken. Das ist ein jahrelanger Prozess, aber in Zürich zeichnen sich bereits einige richtige Schritte in diese Richtung ab.»
Obwohl zunächst nur einige wenige Ratten pro Monat bereitgestellt werden dürften, könnten es mehr werden, wenn sich das Vermittlungsprogramm bewährt. Ebenso könnte es auf andere Tiere ausgeweitet werden, wie Mäuse oder Zebrafische, solange es sich nicht um gentechnisch veränderte Tiere handelt. Laut dem STS besteht in der Schweiz auch für diese Arten eine Nachfrage nach Vermittlung.