Effektives Fitnesstraining dank künstlicher Intelligenz
Probleme löst Joel Roos immer mal wieder mit seinem Erfindergeist. Zum Beispiel vor zehn Jahren, als er ambitioniert Volleyball spielte. «Wir sollten Annahme trainieren, aber viele Aufschläge kamen nicht einmal übers Netz. Das Training war ineffizient», sagt er. Also baute er eine Volleyballmaschine. Diese spedierte die Bälle genau so übers Netz, dass die Spieler, welche die Bälle annehmen mussten, optimal gefordert waren. Ob dank der Maschine oder nicht, Joel Roos und seine Teamkameraden hatten Erfolg: Sie stiegen wenig später in die schweizweit höchste Spielklasse auf.
Der sportliche Ehrgeiz von Joel Roos war auch einer der Gründe, warum VAY entstehen konnte. Das Startup hat eine Software entwickelt, die mit einer einfachen Kamera Bewegungen in Echtzeit aufzeichnen und Feedback geben kann. Sie kann damit als digitaler Coach bei Fitness- oder Physiotherapie-Übungen eingesetzt werden. Dass so etwas nötig ist, merkte Roos vor einigen Jahren, als er als Volleyballprofi viele Stunden im Kraftraum verbrachte. «Ich sah, wie viele Trainierende sich schlecht bewegten und die Übungen falsch ausführten.» Eine App, die ihnen in Echtzeit eine Rückmeldung gibt, würde ihr Training effizienter und gesünder machen, so die Idee.
Software gibt Live-Feedback
In einem der Büros von VAY in Zürich-Enge liegen mehrere Fitnessmatten sowie Hanteln und andere Trainingsgeräte herum. Roos klappt ein Notebook auf und startet eine App. Er will demonstrieren, was die Software kann. Dafür stellt er sich einige Meter vor den Rechner und macht ein paar Kniebeugen. Auf dem Videobild, das auf dem Bildschirm zu sehen ist, zeichnen grüne Linien seine Bewegungen nach. Im Hintergrund werden Positionen und Winkel abgeglichen, so dass nach jeder Ausführung eine Rückmeldung aus dem Computer-Lautsprecher ertönt: «Great Job.» Dann führt Roos die Übung absichtlich ungenau aus, beugt die Knie weniger stark. «Go deeper», meldet der Computer nun.
Die Technologie hinter dem virtuellen Coach funktioniert mit einer einfachen Kamera, ist also Smartphone-kompatibel. Zwar ist die Software von VAY nicht die einzige, die menschliche Bewegungen analysieren kann – aber sicher eine der Besten. Gemäss Roos läuft die Software mit bis zu 100 Frames pro Sekunde. Ein Alleinstellungsmerkmal von VAY ist ausserdem das Zusammenspiel von künstlicher und menschlicher Intelligenz: Die Rückmeldungen aus dem Computer beruhen auf den neusten Erkenntnissen der Bewegungswissenschaft. Erfahrene Sportcoaches speisen die Übungen ein und legen damit die optimalen Bewegungen fest.
Insgesamt hat VAY auf diese Weise bereits rund 200 Übungen erfasst, hauptsächlich solche für das Training zuhause mit eigenem Körpergewicht. Als Nächstes werden Kraftübungen mit Hanteln kommen, und gemäss Roos eignet sich die Technologie auch für Physiotherapie oder Yoga. «Einer unserer grossen Vorteile ist, dass wir neue Übungen sehr schnell ins System einspeisen können», sagt er. Rund zwanzig pro Bewegungswissenschaftler im Monat seien kein Problem.
Versuch mit eigener Fitness-App
Ursprünglich hatte VAY eine eigene App für Fitnesstreibende auf den Markt gebracht. 30 Übungen umfasste sie, vorgetragen von mehreren teilweise bekannten Sportcoaches in verschiedenen Sprachen. Die Download-Zahlen waren zwar beachtlich. Doch im Markt mit Fitness-Apps herrscht grosse Konkurrenz. So zeigen beispielsweise auch Sportcoaches von Nike Fitnessübungen am Handy vor. Deren App kann zwar nicht dieselbe ausgefeilte Technologie vorweisen, dafür umso mehr nette Features – und viel Marketingkapital im Rücken.
Aus diesen Gründen beschloss VAY, die App einzustellen und sich stattdessen auf die Weiterentwicklung der Technologie zu konzentrieren. Für den Rest wurden schlagkräftige Partner gefunden, darunter global führende Fitnesskonzerne. Auch erste Geldgeber sprangen auf das B2B -Modell auf. So investierte beispielsweise die Krankenversicherung CSS in VAY, um einen digitalen Physio-Coach aufzubauen. Zudem gewann das Startup 150‘000 Franken Startkapital bei der Förderinitiative Venture Kick.
Das Interesse am ETH Spin-off war letztlich so gross, dass VAY nur zwei Jahre nach der Firmengründung mehrere Akqusitionsofferten auf dem Tisch hatte. In diesem Herbst schliesslich wurde die Übernahme durch den Fitnessgerätehersteller Nautilus besiegelt.
Personalisierung als Herausforderung
Nun arbeiten 15 Mitarbeitende daran, die Technologie von VAY in die Applikationen und Geräte von Nautilus einzubauen. Eines der nächsten Ziele sei es, die Software für den Kraftbereich (mit Hanteln) zu optimieren, so Roos. Längerfristig soll VAY eine Art Innovations-Lab von Nautilus bei der Entwicklung neuer Technologien werden. Der Standort Zürich und die Nähe zur Grundlagenforschung an der ETH Zürich (wo Roos selbst mit einem Master in Robotik abschloss) kommt VAY dabei entgegen. «Wir hoffen, dass wir die Fitness-Industrie hierzulande etwas beleben können», so Roos.
Eine der grössten Herausforderungen für die Zukunft wird die Personalisierung der Software sein. Derzeit sind die Übungen für den Durchschnittsnutzer optimiert. Man wolle aber auch jene erreichen, die beispielsweise aufgrund von Knie- oder Schulterproblemen in ihren Bewegungen eingeschränkt sind, so Roos. «Das Fernziel ist , dass die Software das Muster hinter Fehlbewegungen erkennt und Lösungen vorschlägt.» Legt beispielsweise jemand sein Gewicht immer stärker auf ein Bein, soll die Software diese Dysbalance erkennen und automatisch korrigierende Übungen vorschlagen.
Privat hat Joel Roos seine Sportbegeisterung keineswegs eingebüsst. Zu Gunsten des zeitraubenden Startup-Lebens schaltete er vor drei Jahren aber beim Volleyball ein paar Gänge herunter. Heute trainiert er nur noch halb so häufig, sein neuer Club spielt eine Liga tiefer. Roos’ ex-Klub Jona indes ist immer noch erstklassig – und die von ihm entwickelte Volleyballmaschine nach wie vor im Einsatz.