Warum Bäume nachts wachsen
Bäume bilden neue Zellen, indem sie die Kohlenhydrate nutzen, welche die Blätter und Nadeln im Rahmen der Photosynthese mit Hilfe des in der Luft vorhandenen Kohlendioxids produzieren. Es ist jedoch nicht primär die Verfügbarkeit von Kohlenhydraten, die das Wachstum begrenzt, sondern die Saugspannung des Wassers im Baum, das sogenannte Wasserpotenzial, wie dies eine kürzlich in der Zeitschrift New Phytologist veröffentlichte Studie zeigt. Das internationale Forscherteam um Roman Zweifel von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL ist zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, dass Bäume überwiegend in der Nacht wachsen und dass dieser Trend vor allem durch die Luftfeuchtigkeit erklärt wird, die nachts höher ist als tagsüber.
In der weltweit ersten umfassenden Studie zum Dickenwachstum von Baumstämmen mit einer stündlichen Datenauflösung analysierten die Forschenden Daten, die bis zu 8 Jahre an 170 Buchen, Fichten und anderen häufigen Baumarten an 50 Standorten in der ganzen Schweiz aufgezeichnet wurden (> 60 Mio. Datenpunkte). An der Studie waren Forschende der ETH Zürich, des Instituts für Angewandte Pflanzenbiologie IAP, sowie weiterer Forschungseinrichtungen aus der Schweiz und Europa beteiligt. Die untersuchten Standorte sind Teil von TreeNet. In diesem Netzwerk erheben Forschende seit 2011 in Schweizer Wäldern neben Informationen über die Trockenheit von Luft (Dampfdruckdefizit, VPD) und Boden (Bodenwasserpotenzial) auch automatisiert die Radiusänderungen von Baumstämmen mit hochpräzisen Punktdendrometern (siehe Abb. 1).
Die Daten zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit des Baumwachstums über die 24 Stunden eines Tages stark variiert: Der Radius von Stämmen schrumpft und dehnt sich unter dem Einfluss von Wasserstress in einem Bereich von 1-200 Mikrometer pro Tag. Diese Schwankungen werden vom Wachstum von Holz- und Rindenzellen, das durchschnittlich etwa 1-5 Mikrometer pro Stunde beträgt, überlagert.
Luftfeuchtigkeit ist der Schlüssel zum Baumwachstum
Das Forscherteam kam zum Schluss, dass die Luftfeuchtigkeit eine Schlüsselrolle spielt, da sie das Wachstum hauptsächlich in der Nacht ermöglicht. In ihrer Studie schränkte ein hohes VPD (trockene Luft) tagsüber das Dickenwachstum stark ein, ausser am frühen Morgen. «Die grösste Überraschung für uns war, dass die Bäume sogar in mässig trockenen Böden wuchsen, sofern die Luft ausreichend feucht war. Umgekehrt blieb das Wachstum sehr gering, obwohl der Boden feucht, zeitgleich die Luft aber trocken war», erinnert sich Roman Zweifel, der Studienleiter von der WSL. Sobald die Luft trockener wird, verlieren die Bäume vorübergehend mehr Wasser durch Transpiration, als sie über ihre Wurzeln aufnehmen können. Der gesamte Baum gerät unter Spannung, das Stammwasserpotenzial sinkt, und sein Wachstum stoppt, unabhängig von der Verfügbarkeit von Kohlenhydraten. «Mit anderen Worten: Bäume hören auf zu wachsen, bevor die Photosynthese gehemmt wird», fasst Roman Zweifel zusammen. Das könnte zum Beispiel erklären, warum Bäume in trockeneren Umgebungen zwar noch Kohlenhydrate speichern, aber kaum noch wachsen.
Neue Sicht auf Kohlenstoffdynamik von Wäldern
Diese Studie zeigt, dass Bäume nur während eines engen Zeitfensters von wenigen Stunden innerhalb der 24-Stunden eines Tages und somit nur während einer begrenzten Zeit über die gesamte Vegetationsperiode wachsen (aufsummiert ca. 15-30 Tage je nach Baumart). Da Kohlenstoffgewinn (Photosynthese während des Tages) und Kohlenstoffverbrauch (Wachstum während der Nacht) zu anderen Tageszeiten stattfinden, reagieren diese zwei Prozesse auch unterschiedlich auf die dann herrschenden Witterungsbedingungen. Bisher verwendete Klima-Waldentwicklungsmodelle hingegen beruhen nur auf dem Wissen aus hauptsächlich Jahres-mittelwerten des Wachstums, gehen also auf die tageszeitlich unterschiedlich vorkommenden Prozesse nicht ein. Diese Erkenntnisse könnten die Art und Weise verändern, wie die Auswir-kungen des Klimawandels auf Wälder zu beurteilen sind, insbesondere wenn es um langfristige Vorhersagen der Kohlenstoffspeicherung von Wäldern unter zunehmend trockeneren Bedingungen geht.