Die Suche nach unendlichen Pfaden
Barbara Dembin steht vor der Wandtafel in ihrem Büro im ETH-Hauptgebäude und zeichnet mit Kreide einen Kreis mit Beulen und Dellen – den Umriss eines Steins. «Wie dringt Wasser von aussen durch den Stein?», fragt sie und skizziert ein paar dünne Linien, die auf unterschiedliche Weise ins Kreisinnere führen. Um diese Frage zu beantworten, führe man einen Parameter ein, erklärt sie und malt ein «p» auf die Tafel. Der Parameter p entspricht der Dichte der Löcher im Stein, also der durchschnittlichen Zahl der Löcher in einem kleinen Gesteinsvolumen. Erreicht p einen bestimmten Schwellenwert, ist das Gestein porös und Wasser beginnt einzudringen.
«Das ist das physikalische Modell», erklärt Dembin: «Dazu gibt es ein einfaches mathematisches Modell.» Auch das zeichnet die Mathematikerin an die Tafel: Ein Gitter aus vertikalen und horizontalen Linien, die sich kreuzen. Dann wischt sie mit dem Schwamm ein paar der Kanten wieder weg, sodass einige der Gitterlinien unterbrochen sind. «Ich schaue mir jetzt die übriggebliebenen Kanten an und will wissen, ob es einen zusammenhängenden Pfad gibt, der durch das ganze Gitter führt», sagt die Forscherin. Im Fall des porösen Steins kann dort das Wasser durchfliessen. Dabei müsse man sich das Gitter und den Pfad als unendlich vorstellen, da die Gesteinslöcher mikroskopisch klein seien im Vergleich zur Grösse des Steins.
Auch in diesem mathematischen Modell spielt der Parameter p für die Lochdichte eine entscheidende Rolle. Ist sein Wert 0, gibt es keine Kanten und damit auch keinen unendlichen Pfad. Ist sein Wert 1, sind alle Kanten vorhanden und damit auch ein unendlicher Pfad. «Uns interessieren die Werte für p zwischen 0 und 1, denn da passiert etwas Verzwicktes», sagt Dembin: «Es gibt einen kritischen Punkt, bei dem sich das makroskopische Verhalten sprunghaft ändert.» Unterhalb dieses kritischen Werts sieht man keinen unendlichen Pfad, darüber gibt es mindestens einen unendlichen Weg. «Man nennt dieses Verhalten einen Phasenübergang», sagt die Mathematikerin.
Kaffee kochen oder Antennen platzieren
Das Forschungsgebiet, das seit den 1950er Jahren aus solchen Überlegungen entstanden ist, heisst Perkolationstheorie, nach dem lateinischen Wort «percolare» für durchdringen. Auf Französisch, Dembins Muttersprache, ist «Percolateur» eine spezielle Bezeichnung für eine Kaffeemaschine. Und tatsächlich ist auch das Kaffeekochen ein Perkolationsphänomen. Ist das Kaffeepulver zu stark komprimiert, sind die Löcher zu klein, es dringt kein Wasser durch. «Der Phasenübergang entspricht jenem Moment, in dem das Wasser durch die Kaffeekörner zu fliessen beginnt», sagt Dembin.
Mit der Perkolationstheorie lassen sich viele physikalische Phänomene untersuchen wie beispielsweise die spontane Magnetisierung von Legierungen oder die Entstehung von Sternen in Galaxien. Damit kann man aber auch zeigen, wie der Strassenverkehr in Städten zusammenbricht, wenn bestimmte Engpässe überlastet sind. In der Telekommunikation lässt sich so eruieren, wo man Antennen am besten platziert, um ein flächendeckendes Netz zu erhalten. Man kann damit aber auch erklären, wie sich Waldbrände oder Epidemien ausbreiten. So nutzten viele Forschende die Perkolationstheorie während der Covid-Pandemie, um Aussagen zur Ausbreitung und Empfehlungen zur Eindämmung der Viren zu erarbeiten.
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Von solchen praktischen Anwendungen ist die Arbeit von Dembin aber weit entfernt: «Ich forsche auf dem Gebiet der theoretischen Mathematik und konzentriere mich ganz auf theoretische Aspekte; Anwendungen zu finden, ist ein anderer Job.» Eine der Hauptfragen der Perkolationstheorie gilt dem Verhalten des aufgezeichneten mathematischen Modells am kritischen Punkt. Ist das Modell zweidimensional wie auf der Wandtafelskizze, lässt sich beweisen, dass der kritische Parameter ½ ist, und dass es bei diesem kritischen Parameter keinen unendlichen Pfad gibt.
«In drei Dimensionen kennen wir den genauen Wert des kritischen Parameters nicht, und wir glauben, dass es keinen unendlichen Pfad am kritischen Parameter gibt», sagt sie und fügt hinzu, dass dies eines der wichtigsten offenen Probleme auf diesem Gebiet ist. «Aber darum geht es mir nicht. Vielmehr befasse ich mich mit dem sogenannten unterkritischen Bereich, in dem es mit Sicherheit keinen unendlichen Pfad gibt», sagt Dembin: «Wir wollen verstehen, wie schnell die Wahrscheinlichkeit, dass ein langer Pfad existiert, mit der Grösse dieses Pfades gegen Null tendiert.» Zusammen mit Vincent Tassion, Mathematikprofessor an der ETH Zürich, hat sie bereits Ergebnisse zu dieser Frage für eine andere Art von Perkolationsmodell erzielt.
Stress am Examen
Aufgewachsen ist Barbara Dembin in der Nähe von Paris. Schon als Kind brillierte sie in der Schule in Mathematik; Eltern und Lehrpersonen erkannten und förderten diese Begabung. «Ich hatte Glück», sagt die 29-jährige heute: «Wenn man gut ist, und die Leute dies anerkennen, will man noch besser werden.» Sie bestand den schwierigen und äusserst selektiven Aufnahmewettbewerb an die französische Elitehochschule «Ecole polytechnique». Noch heute erinnert sie sich an das Examen, für das sie am Gymnasium während zwei Jahren Vorbereitungsklassen absolvieren musste, um überhaupt eine Chance zu haben: «Der schriftliche Teil der Prüfung gelang mir gut, der mündliche war schlimm.» Sie hatte Angst, etwas Falsches zu sagen und war dadurch in ihren Gedankengängen blockiert.
Noch heute fühlt sie sich manchmal etwas unwohl, wenn sie mit erfahreneren Forschenden, die sie noch nicht kennt, über Mathematik spricht. «Ein Problem, das meine männlichen Kollegen offenbar nicht haben», sagt sie: «Ich denke wohl, dass ich als Frau besonders aufpassen muss, dass ich einen guten Eindruck mache.» Noch im Gymnasium seien die Besten in Mathematik meist Mädchen gewesen, später sei die Zahl der Frauen in diesem Gebiet auf 10 Prozent gefallen. «Da gehört man wirklich zu einer Minderheit, und man achtet mehr auf das, was man sagt, weil man viel besser sichtbar ist.» Im Forschungsalltag habe sie aber keine Probleme. «Ich hörte nie sexistische Bemerkungen oder Ähnliches», sagt sie.
Prize for innovative research
Nach dem Studium und dem Doktorat in Mathematik am renommierten Laboratoire de probabilités, statistique at modélisation (LPSM) in Paris bewarb sie sich für eine Postdoktorandenstelle im Team von Vincent Tassion – «im letzten Moment, zwei Wochen vor Anmeldeschluss», erinnert sie sich: «Ehrlich gesagt hatten meine Bekannten, die noch nie in der Schweiz waren, und auch ich selbst keine gute Meinung über das Land. Wir hielten die Städte für kalt und langweilig.» Doch als sie ihre Stelle an der ETH im September 2020 antrat, fühlte sie sich schnell wohl. «Ich mag Zürich sehr und möchte nicht nach Paris zurück. Es ist hier wirklich schön», sagt sie. Sie geht gerne in die Stadt, geniesst aber auch die Natur, macht Waldspaziergänge oder längere Wanderungen. Zudem lernt sie Deutsch. «Ich schaue mir viele Filme auf Deutsch an und jemand sagte, ich hätte einen hübschen Akzent», meint sie lachend.
Sie kocht auch gerne und sieht darin durchaus Parallelen zur Forschung. «Die Köche, die neue Gerichte erfinden, sind sehr kreativ. Auch sie wenden bestimmte, allgemeine Methoden auf ganz persönliche Art und Weise an und erforschen so neue Horizonte», sagt sie. In der Mathematik gehe man ähnlich vor. Dabei sei die Zeit ein wichtiger Faktor. «Will man ein schwieriges Problem lösen, gibt es einen aktiven und einen passiven Teil», erklärt sie. Im aktiven Teil denkt man intensiv über das Problem nach, danach muss sich das Gehirn in einer passiven Phase erholen und die Dinge neu organisieren, bevor man das Problem wieder angeht und hoffentlich die Lösung sieht. «Es ist zwar hart, nicht enttäuscht zu sein, wenn man einen Fehler findet, aber unsere Fehler zu verstehen ist ein wichtiger Bestandteil des Lernprozesses», sagt Dembin.