Das eisige Gedächtnis des Monte Rosa

Die nächste wissenschaftliche Mission, um das Erbe der Walliser Alpen zu bewahren, hat begonnen. Nach den Schwierigkeiten durch zunehmende Schmelze am Grand Combin im letzten Jahr bricht ein italienisch-schweizerisches Team des internationalen Ice-Memory-Projekts jetzt erneut auf, um das wertvolle Eisarchiv der Alpen zu retten. Wenn das Team erfolgreich ist, wird einer der Eisbohrkerne in die Antarktis gebracht, um dort für zukünftige Forschergenerationen aufbewahrt zu werden.
Der südöstlich von Zermatt gelegene Colle Gnifetti mit dem Bohr-Camp während der Expedition im Jahr 2015 (im Hintergrund die Dufourspitze). (Foto: Paul Scherrer Institut/Johannes Schindler)

Das Monte-Rosa-Massiv birgt das am besten untersuchte und wichtigste Gletscherarchiv der Alpen. Auf dem Gletschersattel Colle Gnifetti, dem Akkumulationsgebiet des Grenzgletschers ist das Eis über 80 Meter dick – hier finden Forschende wertvolle Informationen über die Umwelt und das Klima der letzten zehntausend Jahre.

Aber steigende Temperaturen bedrohen dieses wissenschaftliche und kulturelle Erbe. «Wenn die Gletscher schmelzen, gehen die in ihnen gespeicherten Informationen für immer verloren», sagt François Burgay, Postdoc im Labor für Umweltchemie am PSI. Wie real die Bedrohung ist, zeigte sich im September 2020, als das Gletscherplateau unterhalb der Gipfel des Grand Combins in so schlechtem Zustand war, dass die Forschenden nicht tiefer als 20 Meter bohren konnten, weil sie dort auf eine von durchgesickertem Schmelzwasser durchnässte Schicht stiessen.

Aus diesem Grund will das italienisch-schweizerische Team Eisbohrkerne vom höhergelegenen, noch «kalten» Gletscher im Grenzsattel des Monte Rosa für das internationalen Projekt Ice Memory entnehmen. Einer der Kerne soll so bald wie möglich in das Eisbohrkernarchiv verfrachtet werden, das in der Antarktis entstehen soll.

«Der Bohrort am Colle Gnifetti liegt höher als das Gletscherplateau am Grand Combin. Wir sind daher optimistisch, dass dort das Eis und die darin gespeicherten Klimainformationen nach wie vor gut erhalten sind», sagt François Burgay, der an der Expedition teilnimmt.

Die Mission wurde organisiert vom Institut für Polarwissenschaften ISP des italienischen Nationalen Forschungsrats und der Universität Ca' Foscari in Venedig in Zusammenarbeit mit dem Paul Scherrer Institut PSI. Sie wird am 1. Juni starten. Die Forschenden werden zwei Nächte in der Hütte Capanna Gnifetti auf etwa 3600 Meter verbringen, um sich an die Höhe zu akklimatisieren. Wenn das Wetter mitspielt, werden die Forschenden wenige Tage später auf über 4500 Meter Höhe fliegen, um mit der eigentlichen Arbeit, der Entnahme der Eisbohrkerne zu beginnen.

«Wenn wir das Klima und die Umweltbedingungen in der Vergangenheit verstehen, ermöglicht uns das, Veränderungen in der Zukunft vorherzusagen», sagt Carlo Barbante, Direktor des italienischen National Research Council Institute of Polar Sciences ISP-CNR und Professor an der Universität Ca' Foscari. «Berggletscher bewahren das Klima- und Umweltgedächtnis der sie umgebenden Region, aber sie ziehen sich aufgrund der globalen Erwärmung unaufhaltsam zurück. Das bedroht die Erhaltung dieses unschätzbaren wissenschaftlichen Erbes.»

Zweitgrösster Gletscher der Alpen

Für die Dauer der eigentlichen Eisbohrmission, die etwa 10 Tage dauern soll, werden die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Capanna Margherita auf 4554 Meter wohnen - der höchsten Berghütte Europas. Sie wurde vor 128 Jahren auf einem felsigen Gipfel errichtet, um zur Forschung in der Höhenphysiologie und inzwischen auch in den Klimawissenschaften beizutragen.

Gletscherarchive wie dasjenige auf dem Monte Rosa werden in den Alpen immer seltener. Jetzt ist eine der letzten Gelegenheiten für Forschende, Eisbohrkerne zu bergen, die noch nicht durch den Klimawandel in Mitleidenschaft gezogen sind und die unschätzbare Informationen über die Geschichte unseres Klimas liefern können.

Die Expedition am Monte Rosa ist die zweite in einer Reihe von Expeditionen, die durch das italienische Ministerium für Bildung, Universität und Forschung und das Paul Scherrer Institut finanziert werden.

Die Wissenschaft von Eisbohrkernen

Das Ice-Memory-Projekt zielt darauf ab, hochwertige Proben für zukünftige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu bewahren. Wenn ein paar weitere Jahrzehnte vergangen sind, haben diese wahrscheinlich noch bessere Methoden und Technologien für die Analyse zur Verfügung. «Es ist quasi ein Geschenk der jetzigen Forschergeneration an die zukünftigen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen», sagt François Burgay.

Um die Reaktion des Erdklimas auf natürliche und durch den Menschen verursachten Emissionen besser zu verstehen und Klimaprobleme angehen zu können, sei es unerlässlich, die Vergangenheit zu untersuchen, sind die Forschenden vom Ice-Memory-Projekt überzeugt. Die Bohrkerne helfen die natürlichen Klimaschwankungen zu rekonstruieren, bevor industrielle Emissionen von beispielsweise Treibhausgasen den Klimawandel herbeigeführt haben.

Eisbohrkerne von hochalpinen Gletschern, zum Beispiel vom Colle Gnifetti auf dem Monte Rosa oder vom Ortler haben es den Forschenden ermöglicht, die Entwicklung des Klimas über die letzten 5000 Jahre oder die in Folge der Industrialisierung zunehmende Luftverschmutzung in Europa zu rekonstruieren.   

Über Ice Memory

Ice Memory ist ein internationales Programm, das darauf abzielt, für die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte ein Archiv sowie Daten über die Geschichte des Klimas und der Umwelt der Erde bereitzustellen. Man erwartet, dass diese für die Wissenschaft und die Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien für das Wohlergehen der Menschheit grundlegend sind. Ice Memory strebt eine internationale Konföderation von wissenschaftlichen Gemeinschaften und Institutionen an, die ein Archiv von Eisbohrkernen in der Antarktis aufbauen, um Informationen von Gletschern zu bewahren, die derzeit durch die Erderwärmung gefährdet sind. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind davon überzeugt, dass das Eis Informationen enthält, die auch dann noch wertvoll sind, wenn die Gletscher verschwunden sind. Ohne das angestrebte Eisbohrkernarchiv wäre das daraus resultierende Wissen für immer verloren.

Die Expedition im Monte–Rosa-Gebiet ist die dritte offizielle Ice-Memory-Mission auf alpinen Gletschern, nach denen auf dem Mont Blanc im Jahr 2016 und am Grand Combin im Jahr 2020. Bei anderen internationalen Expeditionen konnten zudem bereits Eisbohrkerne von einem Gletscher am Illimani in Bolivien, am Belucha im russischen Altai (Sibirien) und am Elbrus in Russland gesichert werden.

Ice Memory ist ein gemeinsames Programm des Paul Scherrer Instituts, der Universität Grenoble Alpes, der Universität Ca' Foscari in Venedig, des Französischen Nationalen Forschungsinstituts für Nachhaltige Entwicklung (IRD), des Französischen Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung (CNRS), des Italienischen Nationalen Forschungsrats (CNR) und des Französischen Polarinstituts Paul Emile Victor (IPEV).

Teilnehmende an der Expedition

Theo Jenk (Expeditionsleiter, PSI)
Margit Schwikowski (PSI)
François Burgay (PSI)
Sabine Harbeke (ZHdK, PolARTS Projekt)
Jacopo Gabrieli (CNR/Ca' Foscari)
Fabrizio de Blasi (CNR/Ca' Foscari)
Andrea Spolaor (CNR/Ca' Foscari)
Paolo Conz (Bergführer).
Federico Dallo (Ca' Foscari) wird an der Basis in Alagna bleiben.

Die Mission wird von AKU und Karpos unterstützt und findet in Zusammenarbeit mit der Einwohnergemeinde Zermatt, der Sektion Naturgefahren Kanton Wallis, der Gemeinde Alagna Valsesia, Alagna's Bergführern, Monterosa srl, Rifugi Monterosa, Monterosa 2000 spa, Camp, ARPA Piemonte, ARPA Valle d'Aosta, Comitato Glaciologico Italiano, Ente di gestione delle aree protette della Valle Sesia, Fondazione Montagna Sicura und der Universität Turin statt.

Text: Erstellt auf der Grundlage einer Medienmitteilung der Università Ca' Foscari Venezia mit Ergänzungen des Paul Scherrer Instituts