Das Beste aus zwei Welten
Wer meint, in der Energiedebatte würden immer nur dieselben Argumente gewälzt, hat noch nicht mit Annalisa Manera gesprochen. «Es gibt keine Energiequelle, die keinen Abfall verursacht. Und keine, deren Risiko absolut null beträgt», sagt die Forscherin.
Manera, Ende 40, halbkurze braune Locken, ist Wissenschaftlerin am PSI. Hier leitet sie seit gut einem Jahr im Forschungsbereich Nukleare Energie und Sicherheit eine Gruppe, die sich mit Flüssigkeitsdynamik und Wärmetransport beschäftigt. Zudem ist sie Professorin für Nukleare Systeme und Mehrphasenströmungen an der ETH Zürich. Kurz gesagt: Sie kennt sich mit Kernenergie aus.
Aber wer erwartet, dass für sie die Kernkraft über allem anderen steht, liegt wieder falsch. «Wir sollten so viele Sonnenkollektoren wie möglich auf den Dächern unserer Häuser anbringen! Die Photovoltaik ist perfekt, um den Grossteil unseres persönlichen Bedarfs zu decken», sagt sie. Sie spricht schwungvoll und klar, ein perfektes amerikanisches Englisch mit der Spur eines italienischen Akzents; Manera ist in Süditalien geboren.
Was schnell klar wird: Wenn man die üblichen Standpunkte verlässt, wird es vielschichtig. Und gerade dann blitzen Maneras Augen fröhlich auf – hier ist sie in ihrem Element. Die Komplexität geht sie mit scharfem Verstand und pragmatisch an.
Das zeigt sich schon in der Wahl ihres Studienfachs: «Ich war verliebt in die Physik und die Mathematik. Ich wollte einfach alles verstehen und erklären können. Aber die Berufsaussichten in der Physik waren damals, in den 1990ern in Italien, nicht so gut.» Also schrieb sie sich an der Universität von Pisa für Ingenieurwissenschaften ein. «Hier konnte mir die Kerntechnik am meisten Physik und Mathematik bieten, und ich konnte trotzdem einen Master-Abschluss als Ingenieurin erlangen.»
Noch mal das Land wechseln
Für ihre Masterarbeit ging sie 1998 ins Ausland, an die Technische Universität Delft in den Niederlanden. Und offenbar machte sie ihre Sache in der akademischen Welt gut: Man bot ihr direkt im Anschluss eine Promotionsstelle an, die sie annahm, und wiederum danach eine Assistenzprofessur, die sie jedoch ablehnte. «Ich wollte noch ein anderes wissenschaftliches Umfeld erleben und meinen Horizont erweitern.» Sie ging für zwei Jahre nach Deutschland und arbeitete als Wissenschaftlerin am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf.
Ihre nächste berufliche Station führte sie im Jahr 2006 zum ersten Mal in die Schweiz. Sie war neugierig, ob eine Arbeit in der Industrie etwas für sie sei, und startete bei einem Beratungsunternehmen in Dättwil, Aargau. Eines ihrer Projekte bestand darin, die verschiedenen auf dem Markt befindlichen Reaktortypen zu bewerten, um Empfehlungen für interessierte Länder zu erarbeiten. «Aber in den ersten drei Monaten habe ich gemerkt, dass mich diese Arbeit unterfordert», erzählt sie so sachlich, als würde das nichts über ihren Ehrgeiz aussagen.
Sie blieb im Aargau, ging jedoch zurück in die Forschung: ans PSI. Dort legte Manera wieder eine steile Karriere hin und wurde schon nach sechs Monaten Leiterin der Forschungsgruppe für Verhalten nuklearer Systeme. In dieser Position blieb sie fünf Jahre.
Ihre nächste Stelle war dann bereits eine Professur, allerdings wieder im Ausland, an der University of Michigan in den USA. «Michigan ist in den USA die Nummer eins für Forschung im Nuklearingenieurwesen », sagt Manera. «Und ich mochte die Atmosphäre dort.»
In Michigan blieb sie zehn Jahre. Ihr Kind kam dort zur Welt; heute ist Manera alleinerziehende Mutter eines zehnjährigen Sohnes.
Seit Sommer 2021 ist Manera zurück in der Schweiz, in doppeltem Status an ETH Zürich und PSI. Und sie sagt, sie sei nun in der Schweiz angekommen. «Ich lebe jetzt mit meinem Sohn in einem kleinen Ort in der Nähe von Baden.» Das sei für sie ideal gelegen zwischen der ETH Zürich und dem PSI. Ein guter Ausgangspunkt für Ausflüge sei es auch. «Wir unternehmen oft etwas an den Wochenenden, gehen mit anderen Familien wandern oder ins Museum.»
Es scheint zudem, als sei ein Aspekt von Maneras Arbeit zu einer Art Hobby geworden: Die Forscherin ist in den Medien gefragt als Expertin zur Energiesicherheit in Zeiten des Klimawandels. «Ich bekomme viele Interviewanfragen. Und ich versuche, sie möglichst nie abzulehnen.»
Dabei motiviert sie vor allem, oft wiederholten Narrativen etwas entgegenzusetzen: «Ich sehe öfters irreführende Aussagen in den Medien.» Diese möchte sie dann richtigstellen. So erklärt sie beispielsweise, dass weder ein Unfall wie in Tschernobyl noch einer wie in Fukushima sich in der Schweiz wiederholen könnten: «Tschernobyl war ein ganz anderer Reaktor, diese Art Unfall ist in der Schweiz aufgrund physikalischer Gesetze komplett ausgeschlossen. » Auch ein Fall wie in Fukushima werde durch die kontinuierlichen Verbesserungen hiesiger Reaktoren verhindert. Noch etwas ist Manera wichtig: «Ich versuche in meinen Interviews, technische Konzepte in eine Sprache zu übersetzen, die für die Allgemeinheit leichter verständlich ist.» Und sie fügt hinzu: «Ich will einfach nicht, dass Entscheidungen aufgrund von Fehlinformationen gefällt werden.»
Ein Tisch voll Elektronik
Auch in Zeiten des Ausstiegs aus der Kernenergie ist Manera überzeugt, dass die Forschung in diesem Bereich fortgeführt werden muss. «Fachwissen zu nuklearen Themen werden wir in der Schweiz auch für den Rückbau der Anlagen noch über Jahrzehnte brauchen. Und solange andere Länder weiterhin Kernenergie haben, sollten wir den zukünftigen Wissenszuwachs nicht alleine ihnen überlassen.»
Angekommen ist sie auch, weil ihr die hiesige Forschungslandschaft gefällt. In den USA gibt es keine Grundfinanzierung der Wissenschaft, alles muss über Drittmittel eingeworben werden. Diese wiederum liessen sich vor allem durch Kooperationen mit anderen Forschenden erreichen; Manera baute sich also ein eigenes Netzwerk auf. «Und jetzt habe ich das Beste aus beiden Welten», sagt sie. «Ich profitiere von meinen vielen Kontakten. Und dadurch, dass ich mich hier in der Schweiz nun auf eine stabile Finanzierung meines Labors verlassen kann, habe ich mehr Zeit für die eigentliche Forschung. » Die Stimmung am PSI empfindet sie als eine gute Mischung aus Anspruch und konstruktiver Freiheit: «Wenn es nötig ist, kann ich hier auch mal innehalten und tiefgründig nachdenken.»
Eines der Themen, an denen sie und ihre Gruppe derzeit arbeiten, ist passive Kühlung. Wie also ein Reaktor betrieben werden könnte, dessen Kühlflüssigkeit alleine aufgrund physikalischer Prinzipien umgewälzt würde. «Wenn man eine Pumpe hat, ist das Verhalten der Flüssigkeit ziemlich vorhersehbar. Um dagegen das passive Strömungsverhalten zu simulieren und zu verstehen, braucht man viel komplexere Computermodelle.» Parallel zu diesen theoretischen Berechnungen führt ihre Forschungsgruppe an der ETH Zürich Experimente durch, die das Strömungsverhalten in kleinerem Massstab nachstellen. Die Arbeit an den beiden Instituten scheint Hand in Hand zu gehen: Am PSI zeigt Manera auf einen Bürotisch, der von etlichen bunten Elektronikbauteilen belegt ist. «Wir entwerfen und bauen unsere eigenen ultrahochauflösenden Messgeräte für die Experimente.»
Manera muss los, zwei Gebäude weiter auf dem PSI-Campus hat sie gleich ein Meeting mit Vertretenden der Europäischen Weltraumorganisation ESA. «Eine Marsmission wird ohne Nuklearenergie nicht machbar sein», sagt sie im Gehen.
Man würde ihr gerne weiter zuhören, sich von ihrer Begeisterung für die angewandte Physik anstecken lassen. Manera hat so viele Zahlen und Zusammenhänge parat und doziert doch niemals von oben herab. Aber ihre beiden Kalender – der vom PSI und der an der ETH Zürich – sind voll. Sie winkt zum Abschied und verschwindet in ihrem nächsten Meeting.