So spürt eine Forscherin chemische Signale im Gehirn auf

Nako Nakatsuka hat sich einen Rang auf der diesjährigen Liste der «Innovators Under 35» der «MIT Technology Review» erworben. Grund dafür ist ihre Erfindung eines präzisen chemischen Biosensors, der es ermöglicht, molekulare Vorgänge im Gehirn und Erkrankungen wie Alzheimer, Depressionen und Parkinson besser zu verstehen.
Nako Nakatsuka ist leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin im Labor für Biosensorik und Bioelektronik der ETH Zürich. (Bild: Marianne Lucien / ETH Zürich)

Über 100 Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn kommunizieren pausenlos über elektrische und chemische Signale miteinander. Bisher konzentrierte sich die Forschung vor allem auf die elektrische Kommunikation, doch Nako Nakatsuka, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für biomedizinische Technik der ETH Zürich, wagt sich nun in das noch ziemlich unbekannte Terrain der chemischen Signalgebung vor. Um Gehirnfunktionen besser zu erforschen und zu verstehen, ist eine präzise Sensortechnologie nötig. «Wir verstehen nach wie vor nicht alles, was sich in unserem Gehirn abspielt. So kann es vorkommen, dass wir eines Morgens aufwachen und ohne einen bestimmten Anlass traurig sind», so Nakatsuka. «All das wird von chemischen Vorgängen im Gehirn gesteuert, über die wir nur wenig wissen.»

Biotechnologie-Innovatorin

Ende Juni dieses Jahres wurde Nako Nakatsuka in die Liste «Innovators Under 35» der «MIT Technology Review» aufgenommen, und zwar weil sie einen Biosensor entwickelt hat, der Neurowissenschaftlern bessere Einblicke in die molekulare Kommunikation von Gehirnzellen erlaubt. Um besser zu verstehen, wie sich psychische und neurodegenerative Krankheiten entwickeln, «ist es entscheidend, sich erst einmal zu fragen, wie gesunde Gehirnzellen oder Neuronen kommunizieren», sagt sie. Der Fortschritt in der Forschung auf dem Gebiet der neurochemischen Sensorik wurde dadurch behindert, weil ähnlich aufgebaute Gehirnmoleküle in der komplexen Gehirnumgebung aus einer Vielzahl von störenden Molekülen nur sehr schwer zu unterscheiden sind.  

Die Auszeichnung des MIT hat nicht nur Nakatsukas persönliches Netzwerk erweitert und einen disziplinenübergreifenden Dialog angestossen, sondern auch neue Blickwinkel auf die ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen von neuen Technologien eröffnet. Auch die Industrie zeigte sich begeistert über das kommerzielle Potenzial von Nakatsukas Biosensor.

«Nakos Ideen könnten die Biomedizin revolutionieren», sagt Janos Vörös, Professor am Institut für biomedizinsiche Technik und einer der leitenden Forscher im Labor für Biosensorik und Bioelektronik der ETH Zürich. «Angesichts ihrer grenzenlosen Begeisterung bin ich überzeugt, dass ihr die Herstellung neuartiger, auf Nanomaterial basierender Sensorplattformen gelingen wird. Diese werden einen grossen Nutzen in der Neurowissenschaft und anderen Bereichen haben, etwa Infektionskrankheiten, Krebs und Diagnoseverfahren - für nahezu alles, was wir analysieren möchten.»

Doch die Wissenschaftlerin winkt vorerst bescheiden ab: «Wir sind in der frühen, experimentellen Phase dieser Forschung. Es ist daher nicht zu erwarten, dass man seine Hirnaktivität bald auf einer Apple-Watch verfolgen kann.»

Bahnbrechendes Tool zum Verständnis des Gehirns

Am Schnittpunkt von Chemie, Ingenieurwissenschaften und Neurowissenschaften ist Nakatsuka die Entwicklung eines Biosensors gelungen, der ein enormes Potenzial besitzt, die Analytik disziplinenübergreifend voranzubringen. Schon jetzt werden ihre Sensoren in Laboratorien weltweit eingesetzt, um Gehirn-Botenstoffe in komplexen biologischen Lebendproben in zuvor unerreichter Auflösung im Nanobereich zu untersuchen.

Das Instrument selbst besteht aus einer Glaspipette mit einer nur zehn Nanometer messenden  Kanüle - mit blossem Auge ist diese nicht zu erkennen. Mithilfe von DNA-Sequenzen und zwei Elektroden kann der Sensor neurochemische Stoffe aufspüren und messen, während diese durch die winzig kleine Glaspipette strömen. Nakatsuka plant, ihre Sensortechnologie weiterzuentwickeln als Grundlage für künftige Anwendungen in der Präventivmedizin oder Therapieansätze bei Gehirnerkrankungen.

Ikigai – sinnerfüllte Leidenschaft

«Mein Leben besteht aus einer Reihe von glücklichen Zufällen», sagt Nako Nakatsuka. Doch wenn sie über ihr Leben spricht, wird deutlich, dass kaum alles dem Zufall geschuldet ist und dass sie ihre Interessen gezielt und mit Leidenschaft verfolgt: Kunst, Sport und Wissenschaft. Oft vereint sie ihre  Leidenschaften mit einem weiteren Zweck, zum Beispiel als Illustratorin des Kinderbuchs «A is for Atom: ABCs for Aspiring Chemists». Ihr Engagement spannt einen Bogen über mehrere Generationen, etwa indem sie im Buzz-Feed-Video «Kids Teach Science Experiments to a Real Scientist» mitwirkte oder indem sie ihre noch immer topfitte 89-jährige Grossmutter dazu brachte, ein  Fitnessabo zu lösen. Aus ihrer Sicht «gibt es keine Grenzen, wenn man anderen Menschen hilft, an ihre Fähigkeiten zu glauben.»

Für Nakatsuka war es eine Frage des Durchhaltevermögens, ihren Sinn im Leben – in Japan spricht man von «Ikigai» – zu finden. «Irgendwo gibt es immer schwierige Momente, aber wenn ich solchen Gedanken nachgegeben hätte, wäre ich nicht fähig gewesen, mich weiterzuentwickeln. Der schiere Mut hilft durch schwierige Zeiten.»

Nakatsuka wurde im japanischen Osaka geboren und wuchs in Tokio auf. Sie schildert ihr Familienleben als traditionell japanisch - abgesehen von der unkonventionellen Entscheidung ihrer Mutter, sie an der International School of the Sacred Heart, einer reinen Mädchenschule, anzumelden. In der Regel besuchen japanische Kinder ein nicht konfessionelles, koedukatives Schulsystem, in dem die japanische Sprache, Kultur und Geschichte im Mittelpunkt stehen. «Ich denke, dass es mir sehr geholfen hat, an eine internationale Mädchenschule zu gehen. Ich musste mir keine Gedanken machen über die soziokulturelle Geschlechterdynamik, die an koedukativen Schulen herrscht. Stattdessen konnte ich mich voll auf den Schulstoff und den Sport konzentrieren», erklärt sie. «Ich fühlte mich so akzeptiert wie ich war, und ich war ein ziemlicher Nerd.»

Schicksalshafte Wendung

Ihr Leben lang haben starke weibliche Vorbilder die ETH-Forscherin geprägt. An der Fordham University in New York betreute ihre Professorin Ipsita Banerjee sie über ihr Bachelor-Pensum hinaus mit praktischer Forschungserfahrung in einem Bionanotechnologie-Labor mit Schwerpunkt Gewebe-Engineering. Dort verdiente sie sich bereits als Studentin die Co-Autorenschaft an ihren ersten, von Fachleuten begutachteten wissenschaftlichen Arbeiten. An der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) wurde sie von ihrer Mentorin, Professor Anne Andrews, darin geschult, visionäre wissenschaftliche Themen anzugehen und ihre Kenntnisse in der wissenschaftlichen Kommunikation zu schärfen.

Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass sie einem Gastprofessor spontan eine Führung über den UCLA-Campus gab. Er beschrieb ihr seine Forschung an der ETH Zürich als eine der besten Erfahrungen seiner wissenschaftlichen Karriere. Nakatsuka gesteht, dass sie bis dahin nie von der ETH Zürich gehört hatte. Aber es reizte sie, sich hier zu bewerben. Janos Vörös lud sie zu einem Vorstellungsgespräch ein und unterstützte sie bei der Bewerbung für eines der kompetitiv vergebenen Postdoktorandenstipendien (ETH Fellowship) der ETH Zürich. Das Stipendium ermöglichte ihr die ersten zwei Jahre an der ETH Zürich. Sie erinnert sich: «Schon bei meinem ersten Besuch an der ETH Zürich für das Vorstellungsgespräch habe ich mich in das Labor für Biosensoren- und Bioelektronik verliebt. Ich hatte sofort das Gefühl: Das ist es!»