Rettung für das eisige Gedächtnis der Erde

Gletschereis birgt wertvolle Informationen über die Vergangenheit unseres Planeten. Aber wenn die Gletscher im Zuge des Klimawandels schmelzen, geht dieses Archiv verloren. Ein internationales Forschungsteam mit PSI-Beteiligung beeilt sich, den wissenschaftlichen Schatz für die Nachwelt zu bewahren.
Mit diesem Eisbohrkern hält PSI-Forscherin Margit Schwikowski auch ein Stück Wissen über die Vergangenheit unseres Planeten in den Händen. (Foto: Scanderbeg Sauer Photography)

Ein Wettlauf mit der Zeit – diese Redewendung beschreibt die Anstrengungen von Margit Schwikowski und ihrem Team sehr genau. Denn je unaufhaltsamer der Klimawandel voranschreitet, desto schneller schwinden die Gletscher. Und mit ihnen das Archiv, das sich in ihrem Inneren seit vielen Tausend Jahren angesammelt hat: Gase und Partikel, eingeschlossen in den Tiefen der Eisschichten. Sie verraten, wie sich die Atmosphäre damals zusammensetzte und ermöglichen Rückschlüsse auf vergangene Ereignisse. Wie warm war es in einer bestimmten Zeitperiode? Wann gab es Waldbrände? Welche Pflanzen haben die Menschen damals angebaut?

«Wir können 10 000 Jahre oder manchmal sogar länger zurückschauen», erklärt Schwikowski, Leiterin des Labors für Umweltchemie am PSI. Sie ist Vorstandsmitglied der internationalen Stiftung Ice Memory. Diese möchte ausgewählten Gletschern weltweit Eisbohrkerne entnehmen und sicher in der Antarktis einlagern. Und zwar möglichst bald: «Wir verspüren einen gewissen Druck, denn uns allen ist klar, was mit diesen Gletschern passiert», sagt die Chemikerin. «Wir müssen dringend verhindern, dass die wertvollen Informationen, die sie enthalten, für immer verloren gehen.»

Analysen von Gletschereis liefern bereits heute einmalige Erkenntnisse über vergangene Umweltbedingungen. Aber analytische Methoden entwickeln sich stetig weiter. In Zukunft werden Forschende dem Eis sicher noch viel mehr Geheimnisse entlocken können – wenn es ihnen dann noch zur Verfügung steht. Ice Memory will das sicherstellen.

Neben dem PSI sind an der internationalen Stiftung als Gründungsmitglieder beteiligt die Universität Grenoble Alpes, die Universität Ca’ Foscari in Venedig, das französische Nationale Forschungsinstitut für nachhaltige Entwicklung (IRD), das französische Nationale Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS), der italienische Nationale Forschungsrat (CNR) und das französische Polarinstitut Paul-Émile-Victor (IPEV). Ice Memory wird von der Unesco unterstützt, der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur.

Zwischen Höhenkrankheit und Gletscherspalten

Ins Leben gerufen wurde die Initiative im Jahr 2015. Logisch, dass Margit Schwikowski angefragt wurde, das Eisbohrkernarchiv mitaufzubauen: Die Forschung an Hochgebirgsgletschern ist seit 1992 ihr Spezialgebiet. «Wir sind einige der wenigen Forschungsgruppen der Welt, die überhaupt Gletscherbohrungen machen», erzählt sie. Das ist nicht trivial und braucht viel Erfahrung. «Jeder Gletscher und damit auch jede Bohrung ist anders.»

«Uns allen ist klar, was mit diesen Gletschern passiert»      Margit Schwikowski, Leiterin des Labors für Umweltchemie am PSI

Die gut eine Woche dauernden Expeditionen zu den mehrere Tausend Meter hoch gelegenen Gletschern sind zudem nicht ungefährlich, ergänzt Theo Jenk, Forscher am PSI-Labor für Umweltchemie und Leiter der letzten Expedition von Ice Memory. «Die Luft ist dünn, und es besteht immer die Gefahr, Höhenkrankheit zu erleiden. Wir müssen sicherstellen, erkrankte Teammitglieder notfalls schnell wieder nach unten bringen zu können.»

Höhenkrankheit kann bereits ab 2500 Meter Höhe auftreten und äussert sich in Kopfschmerzen, Verwirrung und Sinnestäuschungen; sie kann auch zu lebensgefährlichen Lungen- oder Hirnödemen führen.

Eine weitere Gefahr bei der Arbeit am Berg sind versteckte Gletscherspalten. An vielen Stellen ist das Team daher nur gesichert, mit Seil und Klettergurt, unterwegs.

Der zweieinhalb Meter lange modulare Eiskernbohrer, mit dem das Team sich nach und nach oft mehr als hundert Meter tief bis auf das Felsbett des Gletschers vorarbeitet, ist eine Spezialanfertigung, entwickelt und gebaut von der Firma icedrill.ch in Biel. Mit der Hilfe einer Winde, an deren Kabel der Bohrer hängt und so gesteuert und mit Strom versorgt wird, holen die Forschenden Stück für Stück, 70 Zentimeter lange Bohrkerne aus der Tiefe hervor.

«Die Arbeitstage da oben sind lang», erzählt Theo Jenk. «Wir arbeiten auch mal in der Nacht, wenn es tagsüber zu warm ist.» Bei zu viel Sonneneinstrahlung könnten die empfindlichen Eisbohrkerne durch Anschmelzen Schaden nehmen. Auch besteht die Gefahr, dass sich am Bohrer Schmelzwasser bildet und dieser dann im Bohrloch festfriert und stecken bleibt. Um die mühsam entnommenen Kerne stets kalt genug zu halten, nehmen die Forschenden Isolationskisten mit auf den Berg und vergraben diese im Schnee. Die Kühlkette muss – notfalls mit Trockeneis oder Kühltransporter – aufrechterhalten werden, bis die Bohrkerne in einem Kühllager gesichert werden können.

Erfolg am Colle Gnifetti

Im letzten Jahr gelang es den Forschenden, zwei über 80 Meter lange Eisbohrkerne von einem Gletscher in den Walliser Alpen zu nehmen, und zwar vom Gletschersattel des Colle Gnifetti im Monte-Rosa-Massiv auf 4500 Meter Höhe. Ein solcher Bohrkern stand ganz oben auf der Liste von Ice Memory. «Wir haben hier die höchstgelegenen Gletscher Europas und diese enthalten viele wertvolle Informationen», sagt Theo Jenk.

Viele Frischwasserquellen speisen sich aus den Alpengletschern, daher heisst die Schweiz auch «Wasserschloss Europas». Umso wichtiger ist es zu wissen, wie sich die Gletscher in Zukunft entwickeln werden – und Vergleichsmöglichkeiten mit der Vergangenheit zur Hand zu haben.

Ausser vom Colle Gnifetti hütet das Team von Ice Memory auch bereits Bohrkerne vom Illimani-Gletscher in den bolivischen Anden, vom Belucha in Sibirien, vom Elbrus im Kaukasus und vom Col du Dôme am Mont Blanc in Frankreich (siehe Karte).

Ein besonders lohnenswertes nächstes Ziel wäre der Kilimandscharo in Tansania, Standort des einzigen in Afrika übrig gebliebenen Gletscherarchivs. Aber laut Schwikowski benötigt die Bewilligung durch die tansanische Regierung ausgiebig Zeit. Ebenfalls auf der Wunschliste stehen der Mount Logan in Kanada, verschiedene Gletscher auf dem tibetischen Hochplateau und der Fedtschenko-Gletscher in Zentralasien.

Zwei Jahre zu spät

Im Jahr 2020 war ein Team von Ice Memory schon einmal auf grosser Expedition in den Walliser Alpen unterwegs – damals am Grand Combin auf 4100 Meter Höhe. Probebohrungen im Jahr 2018 hatten das Gebiet als geeigneten Standort ausgewiesen.  Als die Forschenden zwei Jahre später jedoch mit voller Bohrmontur zurückkehrten, gab es Schwierigkeiten: Sie stiessen schon nach einem halben Meter auf eine harte Eisschicht, und bei 25 Meter blieb der Bohrer endgültig stecken. Der Grund: Frost-Tau-Zyklen hatten sogar im Nährgebiet des Gletschers Schmelzwasser entstehen lassen. Offensichtlich war es zwischen 2018 und 2020 so warm gewesen, dass viel Schmelzwasser weit in die Tiefe vordringen konnte. Selbst wenn man einen Bohrkern hätte entnehmen können – für die Klimawissenschaft wäre er nutzlos gewesen. «Wir waren total schockiert», erzählt Schwikowski. «Denn damit war klar: Für diesen Gletscher waren wir schon zu spät dran.»

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind fast alle Gletscher dieser Erde im Schrumpfen begriffen – und das mit steigender Geschwindigkeit. Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der ETH Zürich und der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL fand vor Kurzem, dass die Gletscher weltweit in den Jahren 2000 bis 2004 jährlich 227 Milliarden Tonnen Eis verloren hatten – zwischen 2015 und 2019 waren es im Durchschnitt bereits 298 Milliarden Tonnen pro Jahr. Zu den am schnellsten schmelzenden Gletschern gehören der Studie nach jene in Alaska, in Island und in den Alpen.

Sicher am Südpol

Die Forschenden nehmen an jedem Standort mindestens zwei Bohrkerne. Der eine davon dient als Referenz und wird unter anderem am PSI analysiert; die Daten werden öffentlich zugänglich gemacht.

Der jeweils zweite Bohrkern soll in einer Eisgrotte in der Antarktis eingelagert werden, denn Kühlung benötigt hier keinen Strom. Ein weiterer Vorteil, der den weiten Transport zum Südpol rechtfertigt: Dieser Teil der Erde ist politisch neutraler Boden und laut Antarktisvertrag ausschliesslich der friedlichen Nutzung, besonders der wissenschaftlichen Forschung, vorbehalten.

Derzeit laufen Experimente dazu, wie genau man das Lager am besten errichten kann. Geplant ist eine Art Eishöhle, die den Eisbohrkernen ein sicheres Zuhause bieten soll. Damit sie nicht das gleiche Schicksal ereilt wie die Gletscher, aus denen sie stammen. Denn zumindest für die Antarktis ist nicht mit einem Abschmelzen in den nächsten hundert Jahren zu rechnen.