Quantensprung bei den Quantenwissenschaften
Was hat Quantenphysik mit Ingenieurswissenschaften gemein? Auf den ersten Blick nicht viel. Die eine eher Erklärungen suchend zum Verständnis von Naturphänomenen. Die andere stärker an praktischen Anwendungen interessiert. Dass eine Kombination das Potenzial birgt, neue Erkenntnisse und Anwendungen hervorzubringen, zeigt sich an der ETH Zürich. Im Herbst 2019 startete der neuartige Masterstudiengang «Quantum Engineering» und dank dem kurz darauf initiierten «Quantum Center» lassen sich die verschiedenen Aktivitäten in der Quantenforschung besser vernetzen und sichtbar machen. Mittlerweile gibt es eine beachtliche Zahl von Professuren, die sich mit Quantenphysik und -technologien befassen. Im Mai 2021 wurde dann der «ETHZ-PSI Quantum Computing Hub» zur Entwicklung von Quantencomputern gegründet.
Stellvertretend für die Verbindung von Ingenieurs- und Quantenwissenschaften an der ETH Zürich und den Ausbau bei letzteren stehen zwei Köpfe. Lukas Novotny, Professor am Departement Informationstechnologie und Elektrotechnik sowie Programmdirektor des noch jungen Masterstudiengangs «Quantum Engineering», und Andreas Wallraff, Professor für Festkörperphysik, Gründungsdirektor des «Quantum Centers» und wissenschaftlicher Co-Leiter des «ETHZ-PSI Quantum Computing Hub». Ein Ingenieur und ein Physiker. Dass dieser geballte Ausbau der Quantenwissenschaften an der ETH Zürich gerade jetzt erfolgt, kommt nicht von ungefähr.
Schwelle zu möglichen Anwendungen
Quantenphysik existiert bereits seit über 100 Jahren. Ursprünglich ging es darum, mikroskopisch kleine Objekte der Natur wie etwa Atome zu verstehen. Es waren Physiker der ersten Generation wie Max Planck oder Niels Bohr, die Quantenphysik als Wissenschaftsfeld begründet haben. Später gab es Anwendungen, die ohne Quantenphysik nicht denkbar gewesen wären: Transistoren, Laser oder Magnetresonanztomographie (MRT) – die erste Quantenrevolution. In den 1980er Jahren kamen theoretische Ideen auf, die Quantenphysik in der Informationstechnologie, für Computer, Kommunikation oder bessere Sensorik zu verwenden – so etwas wie die zweite Quantenrevolution. «In diesen Bereichen wie auch in den Grundlagen und Anwendungen der Quantenphysik war die ETH Zürich schon immer stark», urteilt Wallraff. «Und jetzt steht die Kombination der Quantenphysik mit diesen Feldern an der Schwelle zu möglichen Anwendungen», ergänzt Novotny.
In diesem Sinne wurde als erster seiner Art überhaupt der neue Masterstudiengang «Quantum Engineering» entwickelt. «Uns war bewusst: Wollen wir dieses Feld weiter in Richtung Anwendung entwickeln, müssen die Quantenwissenschaften auf den Tisch der Ingenieure kommen», so Novotny, «denn der Physiker will immer verstehen, wieso und wie etwas ist, und hat nicht unbedingt eine praktische Anwendung im Auge. Der Ingenieur will immer wissen: Was kann ich damit anfangen?» An der ETH Zürich, wo Quantenphysik und Ingenieurswissenschaften von grosser Bedeutung sind, sei das der «goldene Moment» gewesen, auf dem Bachelor beider Studienrichtungen einen neuen Masterstudiengang aufzubauen.
Von der Idee bis zu denersten Bewerbungsrunden von Studierenden dauerte es nur wenige Monate – auch, weil das Rektorat der ETH Zürich diesem Projekt wohlgesonnen war. Erste Studienabgehende in «Quantum Engineering» werden sehr gefragt sein. «Ich denke, 80 Prozent gehen in die Privatwirtschaft», so Novotny. Der Grund: Neuentwicklungen von Geräten müssen immer handlicher, schneller und sensitiver werden. Extrapoliert bedeutet dies, dass sich die Entwicklung bis an die Grenzen des heute Machbaren verschiebt, «und dort fängt die Quantenmechanik an», so Novotny.
Bis daraus ein Quantensprung resultiert, der sich in bahnbrechenden neuen Anwendungen manifestiert, dürfte noch einige Zeit vergehen. Dies zeigt sich auch bei supraleitenden Quantencomputern, wie sie am «ETHZ-PSI Quantum Computing Hub» weiterentwickelt werden sollen. Diese neuartigen Prozessoren arbeiten anders als heutige Computer, nämlich auf der Basis von sogenannten Quantenbits (Qubits). «Qubits erweitern den Raum, Dinge zu tun, die mit konventionellen Computern nicht möglich sind», so Wallraff. «Sie verschieben die Grenzen der Möglichkeiten nach oben.» Allerdings: Quantencomputer zu bauen ist eine komplexe Angelegenheit, sie erweisen sich oft als fehleranfällig.
Quantencomputer mit 50, vielleicht 100 Qubits
Forschende der ETH Zürich betreiben derzeit Quantencomputer mit bis zu 17 Qubits. Für die nächste Entwicklungsstufe wurde auf dem Gelände des PSI mit dem dort vorhandenen Know-how zur Projektierung und Betrieb von Grossanlagen ein bestehendes Gebäude eigens für die Forschung an Quantencomputern umgebaut. Mittelfristiges Ziel: Quantencomputer mit 50, vielleicht 100 Qubits zu bauen. Um das Potenzial auszuschöpfen, sind jedoch Tausende, wenn nicht Hunderttausende von Qubits notwendig. Zukunftsmusik? «Niemand kann heute abschätzen, was mit Quantencomputern realisierbar sein wird. Doch viele Unternehmen und Forschende sind sehr optimistisch», so Wallraff, «vor allem aber gibt es eine Fülle offener wissenschaftlicher Fragen.»