Vom ewigen Ungleichgewicht
Wer eine Flasche Bier in eine grosse Badewanne voll eiskalten Wassers legt, der wird alsbald ein kühles Bier geniessen können. Wie das funktioniert, haben Physiker schon vor über hundert Jahren herausgefunden. Durch die Glasflasche hindurch findet ein Wärmeausstausch statt, bis ein Gleichgewicht erreicht ist.
Es gibt allerdings auch andere Systeme, insbesondere Quantensysteme, die nicht zu einem Gleichgewicht finden. Sie ähneln einer hypothetischen Bierflasche, die im eiskalten Wasser nicht immer und unweigerlich auf die Temperatur des Badewassers abkühlt, sondern abhängig von ihrer eigenen Anfangstemperatur unterschiedliche Zustände erreicht. Bisher haben derlei Systeme Physikern Rätsel aufgegeben. Doch Nicolò Defenu, PostDoc am Institut für Theoretische Physik, hat nun einen Weg gefunden, wie man ihr Verhalten elegant erklären kann.
Weiter entfernte Beeinflussung
Konkret geht es um Systeme, bei denen die einzelnen Bausteine nicht nur ihre direkten Nachbarn beeinflussen, sondern auch weiter entfernte Objekte. Ein Beispiel wäre eine Galaxie: Die Gravitationskraft ihrer einzelnen Sterne und Planetensysteme wirkt nicht nur auf die benachbarten Himmelskörper, sondern, wenn auch schwächer werdend, noch weit darüber hinaus auf die anderen Bestandteile der Galaxie.
Defenus Ansatz beginnt mit der Vereinfachung des Problems auf eine Welt mit einer einzigen Dimension. Darin gibt es ein einzelnes Quantenteilchen, das sich nur an ganz bestimmten Orten entlang einer Linie aufhalten kann. Diese Welt ähnelt einem Brettspiel wie Eile mit Weile, wo ein Figürchen von Feld zu Feld hüpft. Angenommen es gibt einen Spielwürfel, dessen Seiten alle mit «Eins» oder «Minus Eins» versehen sind und der Spieler, dem das Figürchen gehört, würfelt nun immer wieder hintereinander. Dann wird die Figur auf ein Nachbarfeld hüpfen und von dort zurück oder aber auf das nächste Feld. Und so weiter.
Die Frage ist nun: Was passiert, wenn der Spieler unendlich lange würfelt? Gibt es nur wenige Spielfelder, so kommt die Figur immer mal wieder bei ihrem Ausgangspunkt vorbei. Wo sie sich zu einem gegebenen Zeitpunkt genau befinden wird, lässt sich allerdings nicht vorhersagen, weil man die Würfe ja nicht kennt.
Zurück zum Ausgangsfeld
Ähnlich weiss man von dem Teilchen, das den Gesetzen der Quantenmechanik unterliegt, nie genau, wo es sich befindet. Man kann seinen Aufenthaltsort aber anhand von Wahrscheinlichkeitsverteilungen angeben. Jede Verteilung ergibt sich aus einer andersartigen Überlagerung der Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Orte und entspricht einem bestimmten Energiezustand des Teilchens. Es stellt sich heraus, dass die Anzahl der stabilen Energiezustände mit der Anzahl der Freiheitsgrade des Systems übereinstimmt und somit genau der Anzahl erlaubter Orte entspricht. Der springende Punkt: All die stabilen Wahrscheinlichkeitsverteilungen sind am Ausgangspunkt nicht Null. Die Spielfigur kommt also irgendwann zurück auf ihr Anfangsfeld.
Je mehr Felder es gibt, desto seltener wird die Spielfigur jedoch zum Ausgangspunkt zurückkehren, und bei unendlich vielen möglichen Feldern wird sie irgendwann nicht mehr zurückkehren. Für das Quantenteilchen gibt es dann unendlich viele Möglichkeiten, wie die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Orte zu Verteilungen kombiniert werden können. Damit kann es nicht mehr nur einige diskrete Energiezustände annehmen, sondern alle möglichen in einem kontinuierlichen Spektrum.
Soweit ist das an sich alles bekannt. Es gibt allerdings Spielvarianten oder physikalische Systeme, wo auf dem Würfel auch grössere Zahlen als Eins und kleinere als Minus Eins stehen, die erlaubten Schritte pro Zug also grösser werden dürfen – um genau zu sein sogar unendlich gross. Dadurch ändert sich die Situation grundlegend, wie Nicolò Defenu nun zeigen konnte: In diesen Systemen bleibt das Energiespektrum immer diskret, selbst bei unendlich vielen Feldern. Das bedeutet: Das Teilchen wird immer wieder mal an seinen Ausgangspunkt zurückkehren.
Eigenartige Phänomene
Mit dieser Theorie kann man nun erklären, was in Experimenten bereits vielfach beobachtet worden ist: Systeme, bei denen Interaktionen von grosser Reichweite stattfinden, erreichen kein stabiles Gleichgewicht, sondern vielmehr einen meta-stabilen Zustand, bei dem sie immer wieder zu ihrer Ausgangslage zurückkehren. Im Falle von Galaxien ist das ein Grund dafür, dass sich, anstatt gleichmässiger Wolken, Spiralarme entwickeln. Innerhalb derer herrscht dann eine höhere Sternendichte als ausserhalb dieser Arme.
Ein Beispiel für Quantensysteme, die mit Defenus Theorie beschrieben werden können, sind Ionen, also geladene Atome, die in elektrischen Feldern gefangen sind. Mit solchen Ionenfallen Quantencomputer zu bauen gehört aktuell weltweit zu den grössten Forschungsvorhaben. Damit diese Computer allerdings tatsächlich neue Gefilde betreten was ihre Rechenleistung anbelangt, bedarf es sehr vieler gleichzeitig gefangener Ionen – genau der Punkt, an dem die neue Theorie interessant wird. «Bei Systemen mit hundert oder mehr Ionen würde man eigenartige Effekte sehen, die wir nun erklären können», meint der Forscher aus der Gruppe von ETH-Professor Gian Michele Graf. Die Kollegen aus der Experimentalphysik kommen dem Ziel, solche Formationen realisieren zu können, jeden Tag näher. Und wenn sie dann mal soweit sind, könnte es sich für sie lohnen, ein kühles Bier mit Nicolò Defenu trinken zu gehen.