Mehr Patientensicherheit
Wer krank wird, sucht in der Regel eine Ärztin oder einen Arzt auf. Diese verschreiben die nötigen Medikamente und allfällige weitere Behandlungsmassnahmen. Entsprechend spielt die Beziehung zwischen Patientin oder Patient sowie Ärztin oder Arzt für die Gesundheit eine Schlüsselrolle. Trotzdem ist sie nicht die einzige relevante Beziehung. Auf ihrem Weg zur Genesung treffen Patientinnen und Patienten auf viele Gesundheitsberufe, die alle ihre je unterschiedlichen Kompetenzen, Techniken und Methoden zu ihrem Wohl einsetzen.
Angenommen, eine 56-jährige Patientin leide an einem Darmkrebs. Dieser hat mehrere Metastasen in der Leber gebildet. Verschiedene medizinische Untersuchungen ergeben, dass eine Operation unausweichlich ist. Im Spital wird ihr der Enddarm entfernt. Anschliessend beginnt sie eine Chemotherapie. Diese Therapie wird im Gespräch mit der behandelnden Ärztin festgelegt. Ihre Krankheitsgeschichte ist jedoch umfassender: Die Frau hat durch die Darmentfernung einen künstlichen Darmausgang, ein Kolostoma, erhalten. Sie wird nun von einer spezialisierten Pflegefachfrau, der sogenannten Stomaberaterin, angeleitet, wie sie die Beutel, in denen sich der Stuhl sammelt, mehrmals täglich wechselt und wie sie die Haut rund um den Darmausgang pflegt. Bei der Gewöhnung an den künstlichen Darmausgang ist auch die Pflegefachfrau eine wichtige Bezugsperson der Patientin. Für die Einnahme der Medikamente und zur Linderung der unerwünschten Nebenwirkungen der Chemotherapie holt sich die Patientin regelmässig Rat in der Apotheke.
Vor dem Spitalaustritt besprechen sich die Ärztin, die Pflegefachfrau und die Sozialarbeiterin mit der Patientin und deren Angehörigen. Die Frau erhält ihre Verordnung für die Behandlung zu Hause, die Sozialarbeiterin orientiert sie über die Pflegemöglichkeiten daheim und berät sie bezüglich der Versicherungsleistungen der Krankenkasse. In ihrer Wohnung wird sie von der Spitex unterstützt. Als weitere chirurgische Eingriffe erforderlich werden und erneut eine Chemotherapie anschliesst, setzt die 56-Jährige auch auf komplementärmedizinische Massnahmen. Doch ihr Zustand verschlechtert sich und sie begibt sich in Palliativpflege. Die Verantwortlichen organisieren einen interprofessionellen runden Tisch, an dem ihre Familie teilnimmt.
Das Fallbeispiel verdeutlicht, wie die verschiedenen Gesundheitsberufe gemeinsam eine Patientin versorgen. Im Prinzip ist die Patientin in ein Netzwerk von Medizinal- und Gesundheitsfachpersonen eingebunden, das sie betreut. Studien zeigen, dass die Qualität der Patientenversorgung und die Patientensicherheit steigen sowie die Kosten sinken, wenn die Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen reibungslos funktioniert. Da viele Leistungen im Gesundheitswesen zunehmend ambulant statt stationär erbracht werden, also ohne Übernachtung im Spital, wächst die Bedeutung von ganzheitlichen, berufsübergreifenden Behandlungen.
Teamarbeit als Vorbild
In der Praxis ist eine integrierte und gut aufeinander abgestimmte Patientenversorgung jedoch nicht durchgehend die Regel. Überlastung, fehlende Koordination und Fachkräftemangel färben auf die Zusammenarbeit ab. Auf Patientinnen und Patienten wirken die Abläufe mitunter widersprüchlich und undurchschaubar. Für erkrankte Menschen gibt es auch nicht verschiedene, berufsspezifisch definierte Arten der Gesundheit, sondern nur eine, nämlich die eigene.
«Behandlung ist Teamarbeit und muss aus der Perspektive der betroffenen Patientinnen und Patienten erfolgen», sagt Jörg Goldhahn, Studiendirektor des 2017 eingeführten ETH-Bachelors in Humanmedizin und Professor für Translationale Medizin, die sich mit der Anwendung von Forschungsergebnissen in der Patientenversorgung befasst. Gemeinsam mit den Verantwortlichen der ETH-Pharmazieausbildung, dem Berner Bildungszentrum Pflege, einer Höheren Fachschule für Pflegefachpersonen und dem Kantonsspital Uri entwickelte das ETH-Projektteam Medizin ein neues Ausbildungsmodul, das die interprofessionelle Zusammenarbeit aus der Sicht der Patientinnen und Patienten in den Vordergrund rückt. «Wir haben uns die Teamarbeit, wie sie in den Ingenieurwissenschaften verbreitet ist, zum Vorbild genommen und wollten diesen bewährten Ansatz auch im Gesundheitswesen einführen», sagt Jörg Goldhahn.
Die gemeinsame Lehrveranstaltung vermittelt Medizin-, Pharmazie- und Pflegestudierenden einen Einblick in die Arbeitsweise und die Kompetenzen der anderen Gesundheitsberufe und zeigt ihnen, welche Rolle und Verantwortung sie in der Patientenversorgung wahrnehmen. «Indem die Medizin-, Pharmazie- und Pflegestudierenden miteinander, voneinander und mehr übereinander lernen, erkennen sie, dass sie die verschiedenen Stationen der Patientenversorgung nicht isoliert betrachten müssen, sondern umfassend und aus der Perspektive der Patientin», sagt Claudia Schlegel. Sie ist Co-Leiterin des Lernbereichs Training und Transfer am Berner Bildungszentrum Pflege und hat als Mitglied des Projektteams des ETH-Medizinbachelors die interprofessionelle Lehrveranstaltung massgeblich mitentworfen.
Mit Blick auf die Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte sagt Jörg Goldhahn: «Sie werden in Zukunft noch mehr als heute in interprofessionellen Teams arbeiten. Darauf wollen wir sie möglichst früh im Medizinstudium vorbereiten.» Für Medizinstudierende der ETH findet die Lehrveranstaltung im fünften Semester statt und erstreckt sich über zwölf Nachmittage.
Mit eigenen Augen
Die interprofessionelle Ausbildung orientiert sich an realen Situationen: So erleben die Medizinstudierenden Geburten gemeinsam mit Hebammenschülerinnen und -schülern, erarbeiten medikamentöse Therapien zusammen mit Pharmaziestudierenden und lernen, wie Ärztinnen und Ärzte mit Pflegefachpersonen zusammen die Behandlung einer Patientin entwickeln können. Die Ausbildung umfasst auch Besuche im Kantonsspital Uri und in Hausarztpraxen, damit die Studierenden mit eigenen Augen sehen, wie die Zusammenarbeit unter realen Bedingungen funktioniert und welche praktischen Schwierigkeiten an den Schnittstellen und bei Übergaben auftreten.
Verständnis der Patientenversorgung zu entwickeln.»
An den Pflegefachschulen Bern und Aarau üben die Medizinstudierenden eine gemeinsam durchgeführte Austrittsplanung mit Pflegestudierenden und mit Simulationspatienten – das sind Personen, die so geschult wurden, dass Studierende mit ihnen ein realistisches Gespräch zwischen Ärztin oder Arzt und Patientin oder Patient üben können. Dabei lernen sie die Perspektive der anderen Berufsgruppe und diejenige der Patientin oder des Patienten kennen. Auch lernen sie, ihre Standpunkte im interprofessionellen Team so zu vertreten, dass ihre Erwägungen und Beobachtungen letztlich in die Entscheidung einfliessen, welche Behandlung einer Patientin oder einem Patienten empfohlen wird.
Die optimale Dosierung
Auch bei den gemeinsamen Modulen der Medizin- und Pharmaziestudierenden geht es darum, dass beide Seiten die Kompetenzen der anderen kennen- und schätzen lernen – schliesslich gehören Ärztinnen und Apotheker zur Berufsgruppe der Medizinalpersonen und haben Expertenwissen über Medikamente. Tendenziell betrachten Mediziner:innen die krankheitsbezogene Anwendung eines Medikaments im menschlichen Körper und die Apotheker:innen die Wirkstoffe. «Im Unterricht zeigen wir, wie der fachliche Austausch zwischen Ärztin und Apothekerin zu einer optimalen Dosierung der Medikamente beiträgt und wie sich bei der Kombination mehrerer Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen oder riskante Wechselwirkungen vermeiden lassen», sagt Elvan Kut. Sie ist Dozentin und Programmkoordinatorin des ETH-Masters in Pharmazie und arbeitet als Apothekerin in Zürich.
Die Patientensicherheit bei medikamentösen Therapien ist so zentral für eine Behandlung, dass Medizin-, Pharmazie- und Pflegestudierende dieses Thema gemeinsam belegen – schliesslich können auch Pfleger oder Physiotherapeutinnen wertvolle Rückmeldungen zu einem Therapieverlauf geben. Speziell bei komplexen oder chronischen Krankheiten wie Krebs, Demenz, chronischen Atemwegserkrankungen und Diabetes, die nicht vollständig heilen und wiederholte Behandlungen erfordern, sind Rückmeldungen hilfreich. Um Behandlungsfehler zu vermeiden, ist es wichtig, dass alle involvierten Fachpersonen auch Bedenken zur Behandlung äussern können, wenn ihnen etwas auffällt. Dieses «Speaking up» setzt jedoch hohes wechselseitiges Vertrauen der Berufsgruppen voraus und scheitert in der Realität mitunter an zwischenmenschlichen Barrieren oder betrieblichen Hierarchien.
Schwierige Kommunikation
Zum Teil erschweren die Umstände das Ansprechen sensibler Behandlungsaspekte. Ein solches Fallbeispiel hat Abinaa Senthilrajan untersucht. Sie hat in diesem Jahr den Medizinbachelor an der ETH abgeschlossen und studiert nun Medizin in Lugano. Sie befasste sich mit einer Supermarktverkäuferin, die so schwer an Covid erkrankte, dass sie im Spital für zwei Wochen ins künstliche Koma versetzt wurde. Das Erwachen aus dem Koma erwies sich als schwierig, und bis heute leidet sie am Long-Covid-Syndrom. Die interprofessionelle Zusammenarbeit funktionierte trotz der pandemiebedingten Belastung gut. Schwierig gestaltete sich jedoch die Kommunikation über die Wünsche und Bedenken der Patientin. Sie selbst sprach kaum Deutsch, und ihre Tochter konnte wegen der Besuchsbeschränkungen nicht so oft wie nötig vorbeikommen. «Die Kommunikation ist einer der wichtigsten Faktoren, da sie die Basis jeder medizinischen Versorgung legt», schliesst Senthilrajan.
«Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es den Studierenden gut gelingt, die Perspektiven der Patientinnen und der Gesundheitsberufe einzunehmen und ein berufsübergreifendes Verständnis der Patientenversorgung zu entwickeln», resümiert Claudia Schlegel. «Sie erkennen, dass alle Medizinal- und Gesundheitsberufe das Wohl der Patientin oder des Patienten anstreben, auch wenn sie dafür andere Methoden anwenden.»