Wie man Nerven triggert und Headlines generiert
Es passiert nicht allzu häufig, dass eine aufsehenerregende wissenschaftliche Ankündigung auch einfach zu verstehen ist. Im Frühling 2023 ging eine solche Meldung von Lausanne aus um die Welt: Eine neuentwickelte Technologie, dank der Gelähmte wieder gehen können!
Die beiden Forschenden Jocelyne Bloch von der Universität Lausanne (UNIL) und Grégoire Courtine von der EPFL, die beide jeweils auch Titularprofessorin bzw. -professor an der EPFL bzw. an der UNIL sind sowie auf dem Biotech Campus in Genf arbeiten, konnten endlich den Durchbruch ihrer Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle vermelden. Erste Tests waren vielversprechend, doch nun zeigte das digitale Wunder erstmals seine Wirkung bei einem Menschen: Das Implantat überbrückte bei einem Patienten, der nach einem Fahrradunfall querschnittgelähmt war, erfolgreich die Rückenmarksverletzung im Bereich der Halswirbelsäule. Der Patient konnte wieder stehen, gehen und sogar Treppen steigen.
Der interdisziplinäre Weg zur Heilung des Rückenmarks
Wie ist so etwas möglich? Indem man sehr interdisziplinär an die Sache herangeht, betonen beide. Und das bedeutet nicht nur die Verbindung von neurologischer und chirurgischer Expertise, die sie je im Projekt einbringen, es bedeutet auch profunde KI-Kenntnisse, Wissen im Bereich Robotik und eine Reihe von Fähigkeiten, die nicht direkt mit Fachwissen zu tun haben.
Als renommierte Neurowissenschaftlerin und Neurochirurgin bekomme sie regelmässig Anrufe von Forschenden «mit einer brillanten Idee», sagt Bloch. Doch es brauche mehr als das, das gewisse Extra, um aus einer Idee, so brillant sie auch sein mag, ein funktionierendes medizinisches Projekt zu machen. Dieses «kleine, im Grunde aber bedeutende Extra» habe sie bei Courtine sofort gespürt: die Energie und, nicht zu verachten, auch sein Organisationstalent. Sie sei sogleich «enthusiastisch» gewesen angesichts der echten Perspektive, auch Menschen mit verletztem Rückenmark zu helfen, nach den frühen Erfolgen im Tierversuch. Courtine ergänzt, dass es auch viel Durchhaltevermögen brauche, schliesslich beschäftige ihn diese Idee schon rund 20 Jahre. «Und auch eine gute Portion Glück.»
Den Kontakt zwischen Bloch und Courtine hatte der ehemalige EPFL-Präsident Patrick Aebischer hergestellt und er hatte den richtigen Riecher, die Zusammenarbeit zwischen den beiden ist schon weit gediehen, und doch markiert dies möglicherweise erst den Anfang eines weitaus bedeutenderen Vorhabens. Denn vieles deutet darauf hin, dass die Stimulationstechnologie endlich ausgereift ist. Auch wenn Bloch und Courtine betonen, dass man noch in der Testphase sei und es im Moment gelte, die Sicherheit des Verfahrens zu validieren.
Fortschritte in der Behandlung von Parkinson
Nach den Schlagzeilen im Frühling 2023 kam im Oktober noch ein Nature-Artikel dazu, in dem die beiden vermeldeten, dass die Technologie auch bei Parkinsonpatienten mit Gehschwierigkeiten gute Erfolge zeige. «Es ist noch mehr in der Pipeline», merkt Courtine an, «allzu viel darf ich noch nicht verraten, aber wir sind auf der Spur spezieller Neuronen, die eine Art Reparaturfunktion besitzen und die ebenfalls auf elektrische Stimulation ansprechen».
Diese nächste bedeutsame Entdeckung hatte sich übrigens schon im ersten Nature-Artikel im Frühling angedeutet. Das Lauftraining mit der digitalen Brücke half dem Patienten offenbar, nach und nach verlorene neurologische Funktionen zurückzugewinnen. So registrierten die Forschenden bemerkenswerte Verbesserungen seiner sensorischen und motorischen Fähigkeiten, auch bei deaktiviertem Implantat. Dies legt den Schluss nahe, dass sich durch die Stimulation neue Nervenverbindungen gebildet hatten.
Verschmelzung von Medizin und Technologie
Courtine sagt, er habe als Physiker rasch gemerkt, dass er keine pure Grundlagenforschung machen wolle, sondern etwas Anwendungsbezogenes, das aber ein echtes wissenschaftliches Problem berührt. So kam er zur neurologischen Forschung, und so reifte die Idee, beschädigte Nervenverbindungen mithilfe neuester Verfahren zu überbrücken. Eine Idee im Labor zu entwickeln, ist eine Sache, sie erfolgreich in einen menschlichen Körper einzubauen, sodass ein echter Patientennutzen resultiert, ist noch einmal etwas ganz anderes.
«Ich würde sagen, wir komplementieren uns da ganz gut», stapelt Bloch tief, die die medizinische Expertise beisteuert und die Unerschrockenheit besitzt, im Operationsaal Unerprobtes zu wagen, wie es Courtine ausdrückt. Das Projekt bietet ihr aber nicht nur die Chance, klinische Pionierarbeit zu leisten, sie lerne dabei auch viel über das Funktionieren und vor allem die Regenerationsfähigkeit von neuronalen Verbindungen. Es könnte also durchaus sein, dass man in Lausanne derzeit nicht nur das Potenzial von Hightechmedizin made in Switzerland aufzeigt, sondern auch neue neurologische Kapitel aufschlägt.