Die Glasknochenkrankheit besser verstehen – ganz ohne Tierversuche
In Kürze
- Ein neues Zellkulturmodell erlaubt es, die Knochenentwicklung auf einem Chip im Labor zu untersuchen.
- Es basiert auf einer porösen Matrix aus einem synthetischen Hydrogel. Darin können knochenbildende Zellen wachsen und ein dreidimensionales Netzwerk bilden.
- Das Modell soll dazu beitragen, die Glasknochenkrankheit besser erforschen zu können und Behandlungsmethoden zu entwickeln, ohne dafür auf Tierversuche zurückgreifen zu müssen.
Wer an der Glasknochenkrankheit leidet, für den ist das Leben ein regelrechter Eiertanz. Schon ein kleiner Fehltritt, ein an sich harmloser Sturz oder auch nur eine falsche Bewegung reicht, dass sich Betroffene ein Bein oder den Arm brechen können. Und dies meist zum wiederholten Male. Denn ihre Knochen sind wegen eines vererbten Gendefekts schon von Geburt an spröde und brüchig, oft ist auch ihr Körperbau verformt. Peter Radtke, deutscher Autor und Schauspieler, litt an der Glasknochenkrankheit, Michel Petrucciani, französischer Jazz-Pianist, ebenfalls.
Ursache für die glasigen Knochen sind in den meisten Fällen Mutationen in dem Gen, welches die Bauanleitung für das Eiweiss Kollagen Typ I trägt. Es ist das mit Abstand wichtigste Protein für den Aufbau der harten Knochenmatrix. Wegen des Gendefekts kann sich das Kollagen-Eiweiss bei den Betroffenen nicht richtig falten, was ihre Knochenmatrix instabil und die Knochen brüchig werden lässt. Die Glasknochenkrankheit heisst daher offiziell Osteogenesis imperfecta, auf Deutsch etwa «unvollkommene Knochenentstehung», abgekürzt OI.
Gerüst aus einer porösen Matrix
Wie genau die Mutationen im Kollagen-Protein den Aufbau der Knochenmatrix behindern, und wie man die fehlerhafte Matrix allenfalls behandeln könnte, ist bislang nur ansatzweise bekannt. Einer Gruppe von Forschenden am Institut für Biomechanik der ETH Zürich ist nun ein wichtiger Schritt zur Beantwortung dieser Fragen gelungen. Das Team unter der Leitung von Xiao-Hua Qin, Professor für Biomaterial-Engineering, hat zusammen mit Ralph Müller, ebenfalls Professor an der ETH Zürich, ein 3D-in-vitro-Modell entwickelt, mit dem es die Knochenbildung genauer untersuchen kann – und zwar sowohl mit gesunden Zellen als künftig auch mit solchen von Glasknochen-Patienten. Über diesen Fortschritt berichten die Forschenden in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Communications.
Grundlage des neuen Knochen-Modells ist eine poröse Matrix – eine Art Gerüst – aus einem synthetischen Polymer. In dieser Matrix – einem weichen «Hydrogel» – können sich die knochenbildenden Zellen (Osteoblasten) einnisten, vermehren und untereinander mit ihren Ausläufern ein dreidimensionales Netzwerk bilden. Bei der Entwicklung erwies sich letztlich eine Porengrösse von 5 bis 20 Mikrometer als ideal: einerseits gross genug, dass sich die Zellen einnisten und vernetzen können, andererseits eng genug, dass sie nicht entweichen können.
Die Forschenden liessen sich für das Hydrogel von In-vitro-Modellen für Nervenzellen inspirieren. «Neuronen können in einem porösen Hydrogel sehr einfach künstliche Netzwerke bilden», sagt Qin. Schnell hätten sie dann aber realisiert, dass die Knochen-Vorläuferzellen in einem Punkt «völlig anders reagieren». Sie brauchen zwar auch eine poröse Matrix, doch wichtig sei, dass diese Matrix abgebaut werden könne. Daher fügten die Forschenden dem Hydrogel einen sogenannten Crosslinker hinzu, der von dem Enzym Matrix Metalloprotease (MMP) abgebaut werden kann. Das hat zur Folge, dass die Zellen mehr reife Kollagenfasern bilden. MMP ist für viele Prozesse im Körper essenziell, auch für die Knochenbildung.
Damit die Knochenzellen richtig wachsen und sich vernetzen konnten, brauchte es noch einen zweiten Trick. «Für die Knochenentwicklung, aber auch für den Knochenumbau müssen die Zellen mechanisch stimuliert werden», sagt Doris Zauchner, Doktorandin in Qins Gruppe und Erstautorin der Forschungsarbeit. Dazu platzierten die Forschenden ein Hydrogel mit eingebetteten Zellen auf einen Chip und liessen eine Flüssigkeit durch die Poren strömen. «Die Flüssigkeit übt Scherkräfte auf die Zellen aus», sagt Zauchner. Das sei für die Funktion der Zellen wichtig. Auch in den Poren gesunder Knochen stimuliert eine Flüssigkeit, die Nähr- und Botenstoffe transportiert, die Zellen mechanisch.
Modell kommt normaler Knochenbildung nahe
Wie die Forschenden nun berichten, kann ihr Knochenmodell mit der abbaubaren Hydrogel-Matrix und der mechanischen Stimulation die Knochenentwicklung gut nachahmen. Die Osteoblasten vermehren sich, sie differenzieren sich vereinzelt sogar zu frühen Osteozyten aus – diese machen im gesunden Knochen 90 Prozent der Zellen aus –, sie scheiden Kollagen aus und können die Matrix mineralisieren. «Es ist zwar ein Modell», sagt Zauchner, «aber es kommt der normalen Knochenentwicklung nahe.» Mittlerweile ist das Modell patentiert; es soll interessierten potenziellen Industriepartnern zur Verfügung gestellt werden.
Gegenüber bisherigen Modellen zur Knochenbildung hat das neue In-vitro-Modell auf dem Chip zahlreiche Vorteile. So waren bei früheren Modellen die Poren entweder zu eng, so dass sich die Zellen kaum bewegen konnten, oder zu weit, so dass sich kein dreidimensionales Netzwerk bilden konnte. Zudem bauten diese Modelle auf Kollagen als Matrixstruktur, was zur Folge hatte, dass es sehr schwierig war zu untersuchen, ob und wie viel Kollagen die Zellen selber herstellen. Weil das Modell kleinräumig auf einem Chip Platz findet, können es die Forschenden auch verwenden, wenn ihnen nur wenige Zellen einer Patientin oder eines Patienten zur Verfügung stehen.
Tierversuche ersetzen
Bislang wurde die Glasknochenkrankheit OI allerdings vor allem in Tiermodellen untersucht. Mehr als 20 davon gibt es laut Zauchner, mit Mäusen, Fischen, sogar mit Hunden. «Tierversuche haben aber viele Einschränkungen», sagt sie, vor allem seien sie sehr teuer. «Daher wollen wir ein In-vitro-Modell für OI kreieren. Unser Ziel ist es, Zellen von OI-Patienten in das Hydrogel einzubringen und so herauszufinden, welche Prozesse schief laufen.» In diesen Tagen startet Zauchner die ersten Versuche mit Zellen eines jungen OI-Patienten des Kinderspitals Zürich.
Das OI-Projekt ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms «Advancing 3R». Dessen Ziel ist es zu untersuchen, wie man den 3R-Ansatz – 3R steht für Ersetzen, Reduzieren und Verfeinern von Tierversuchen – voranbringen kann.
Generell will die Arbeitsgruppe von Xiao-Hua Qin die Prozesse der Knochenbildung, des Knochenaufbaus und -abbaus besser verstehen. Dafür setzt das Team nicht nur auf das neue OI-Modell. In einem weiteren Projekt, für das Qin kürzlich einen prestigeträchtigen ERC Starting Grant erhalten hat, geht es um ein Modell für degenerative Knochenkrankheiten wie Osteoporose. Bei diesem Projekt stehen die Osteozyten, also die ausdifferenzierten Knochenzellen, im Fokus. «Mit diesen dreidimensionalen Netzwerken von menschlichen Zellen möchten wir ein In-vitro-Modell für die Knochenentwicklung aufbauen», sagt Qin. Denn bislang sei dies noch niemandem gelungen – ausser vielleicht seinem Team selbst: «In unserem jetzt präsentierten Modell haben wir neben den Osteoblasten auch bereits frühe Osteozyten gefunden.»