Prognose für Unfälle mit Nanomateralien
Jährlich werden mehr als zwei Millionen Tonnen Nanomaterialien produziert und für verschiedenste Konsumgüter verwendet. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden immer wieder Bedenken laut, diese Chemikalien mit nur 1 bis 100 Nanometer (Millionstel Millimeter) kleinen Partikeln könnten schädliche Auswirkungen auf Mensch und Umwelt haben. Viele Studien untersuchten denn auch die Risiken, die mit der Verwendung von künstlichen Nanomaterialien verbunden sind, doch kein Projekt befasste sich bisher mit der unbeabsichtigten Freisetzung dieser Stoffe bei einer Havarie in der Produktionsfabrik oder beim Transport.
«Wir haben erstmals die Wahrscheinlichkeit abgeschätzt, dass es in den nächsten zehn bis dreissig Jahren irgendwo auf der Welt zu Unfällen kommt, bei denen künstliche Nanomaterialien beteiligt sind», sagt Ralf Kägi, Leiter des Partikellabors am Wasserforschungsinstitut Eawag. Die Studie wurde im Rahmen eines EU-Projekts vom britischen Natural Environment Research Council (NERC) koordiniert und zu einem Grossteil von der Schweizer Firma ETSS sowie der Eawag durchgeführt. Jetzt haben die Forschenden ihre Resultate in der Zeitschrift Nature Nanotechnology veröffentlicht. Sie kommen zum Schluss, dass kleinere Unfälle mit einer begrenzten Freisetzung von Nanomaterialien im Bereich von einigen Kilogramm in den nächsten zehn Jahren relativ häufig vorkommen werden; die Forschenden rechnen mit jährlich zwei bis drei solchen Ereignissen. Schwere Unfälle, bei denen zehn- bis hundertausendmal mehr Material in die Umwelt gelangt, sind gemäss ihren Abschätzungen seltener. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in den nächsten zehn Jahren mindesten einen solchen Unfall gibt, beträgt etwa sieben Prozent, in den nächsten dreissig Jahren sind es zehn bis zwanzig Prozent.
Komplexe Datenlage
«Unsere Modelle stützen sich in ihren Grundsätzen auf Berechnungen, die auch für die Nuklearindustrie verwendet werden», sagt Fadri Gottschalk von ETSS. Bei Kernkraftwerken gibt es eine umfassende Methodik zur Erstellung von sogenannten probabilistischen Risikoanalysen. «Allerdings ist die Datenlage bei Nanomaterialien viel komplexer als bei Kernkraftwerken», so der Fachmann. Während sich die Nuklearindustrie unter anderem auf ein beschränktes Spektrum von möglichen, unfallauslösenden Ereignissen konzentriert, weiss man bei Nanomaterialien nicht, was alles schieflaufen kann. Die Studienautoren machten deshalb keine technischen Überlegungen zu Unfallhergängen, sondern projizierten die unbeabsichtigte Freisetzung von künstlichen Nanomaterialien aus der Vergangenheit in die Zukunft.
Als Grundlage diente die französische Datenbank ARIA, in der Chemieunfälle weltweit dokumentiert sind. «Leider wird dort aber nicht rapportiert, ob Nanomaterialien beteiligt waren», sagt Kägi. Um zu rekonstruieren, wie viele Unfälle mit Nanomaterialien es in der Vergangenheit tatsächlich gab, verwendeten die Forschenden zwei verschiedene Methoden. In einem ersten Modell gingen sie davon aus, dass der Anteil von freigesetzten, künstlichen Nanomaterialien dem Marktanteil dieser Stoffe entspricht, der derzeit 0,5 Prozent des gesamten Chemikalienmarktes beträgt. Sie nahmen deshalb an, dass im Schnitt 0,5 Prozent der Unfälle in der ARIA-Datenbank mit der Freisetzung von künstlichen Nanomaterialien verbunden waren. Diese Daten in Kombination mit den entwickelten Computermodellen ermöglichten es dem Forschungsteam, die Wahrscheinlichkeit von zukünftigen Nano-Unfällen abzuschätzen.
Staubexplosion in der Aufbereitungsanlage
In einem zweiten Modell wählte Kägi tausend Chemieunfälle aus der ARIA-Datenbank aus und analysierte diese genauer. Bei zwölf Ereignissen vermutete er eine Freisetzung von Nanomaterialien. So kam es beispielsweise in einer Anlage zur Aufbereitung von Zirkon- und Titanschrott zu einer Staubexplosion. Die Wolke aus brennenden Partikeln breitete sich auf offene Zirkon- und Titankanister aus und verursachte eine zweite Explosion und einen Brand. Vermutlich gelangten durch das Feuer Zirkon- und Titan-Nanopartikel in die Umgebung. Bei einem anderen Unfall brach in einer Metallpulverfabrik ein Brand in einer Filtrationsanlage aus. Dabei wurden höchstwahrscheinlich Kobalt- und Magnesium-Nanopartikel freigesetzt.
Die Unfallberichte legte der Eawag-Forscher einem Gremium mit elf Chemiefachpersonen vor, welche die Vorfälle nach der Wahrscheinlichkeit einer Freisetzung von Nanomaterialien klassifizierten. Auch daraus berechnete ETSS unabhängig vom ersten Modell Prognosen für die Unfallhäufigkeit in den nächsten zehn bis dreissig Jahren. Die Resultate beider Modellrechnungen stimmten gut überein. «Deshalb sind wir zuversichtlich, dass wir realistische Vorhersagen über die künftigen Nanomaterial-Unfälle gemacht haben», sagt Kägi, «obwohl wir mit enormen Unsicherheiten konfrontiert waren.»
Grundlage für Versicherungen
Der Hauptnutzen der Studie sei, dass man die Unsicherheiten quantifizieren konnte, sagt der Forscher: «Versicherungen müssen sich bei der Vorhersage solcher Unfälle nun nicht mehr auf ihr Bauchgefühl verlassen, sondern können mit diesen Zahlen rechnen und Szenarien entwickeln.» In einem nächsten Schritt sollen die Wahrscheinlichkeitsabschätzungen mit Informationen über die Gefährlichkeit des freigesetzten Materials verknüpft werden, um Risikoanalysen zu erstellen. Erst dann lässt sich das Gefahrenpotential für einzelne Personen sowie die Gesellschaft quantifizieren.
Zurzeit werden vor allem Siliziumdioxid und Titandioxid als Nanomaterialien in grossem Massstab produziert – Stoffe, die als unbedenklich eingestuft werden. Damit verglichen sind die Produktionsmengen von exotischen, giftigeren Materialien sehr gering. Und Kägi ist überzeugt, dass sich die Auswirkungen künftiger Unfälle mit Nanomaterialien nicht etwa über Hunderte oder Tausende von Kilometern erstrecken werden wie bei einer Nuklearkatastrophe. «Es wird höchstwahrscheinlich ein lokales Problem sein, bei dem vor allem die Bevölkerung im Umfeld geschützt werden muss.»