Das Praktische im Aussergewöhnlichen
Niels Schröter erhält den SPG-Preis 2021 für hervorragende Forschungsarbeit auf dem Gebiet der kondensierten Materie. Dieser wird ihm heute auf der gemeinsamen Jahrestagung der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft SPG und der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft ÖPG verliehen. «Ich bin aufgeregt! Dies ist der erste grosse Wissenschaftspreis, den ich erhalte», sagt Schröter.
Seine Forschung ist auch deshalb bedeutend, weil sie die Grundlagen für neuartige Quantenbits – kurz Qubits – legen könnte, mit deren Hilfe künftige Quantencomputer bestimmte hochkomplexe Rechnungen ultraschnell ausführen sollen. Obwohl seine Arbeit an sich Grundlagenforschung ist, hatte Schröter diese Anwendung von Anfang an im Blick, sagt er.
Grosse Maschinen für atomare Strukturen
Wenn er von seiner Arbeit der letzten Jahre erzählt, hat Schröter all die verschiedenen Ebenen im Kopf, die dafür zusammenkommen mussten. Er erzählt vom Aufbau der Materie selbst: wie Atome sich in Kristallgittern anordnen können; wie die Elektronen dieser Atome miteinander wechselwirken und wie sie manchmal, wenn man alles richtigmacht, dem Material komplett neue, aussergewöhnliche Fähigkeiten verleihen.
Dann zoomt er gedanklich weit heraus, beschreibt den grossen experimentellen Aufbau: eine weltweit einmalige Photoelektronenspektroskopie-Anlage an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz am PSI. Hier konnte er die neuen elektronischen Zustände nachweisen und vermessen.
Und dann wieder wechselt er in die Sprache der Mathematik. Denn ohne theoretische Vorhersagen hätte der Physiker niemals die Experimente durchführen können, für deren Erfolg er nun den von IBM gesponserten SPG-Preis erhält.
Auf dem Weg zum Quantencomputer
Um zu erklären, wie seine Forschung mit Quantencomputern zusammenhängt – genauer gesagt: wie sie zu Quantenbits führen könnte – muss Schröter etwas ausholen und einige Fachvokabeln erklären. Den jetzigen SPG-Preis erhalte er dafür, dass er neue chirale Materialien gefunden habe, die elektronische Quasiteilchen mit einer exotischen Topologie haben, sagt er.
Elektronische Quasiteilchen sind Zustände in einem Material, bei dem sich die Elektronen kollektiv so verhalten, als seien sie freie Elementarteilchen mit ganz anderen Eigenschaften als freie Elektronen. «Chiral» bedeutet hier, dass die Anordnung bestimmter Atome im Kristallgitter des Materials der Form einer Wendeltreppe folgen. Diese Wendeltreppe kann entweder links- oder rechtsherum laufen, woraus bestimmte elektronische Eigenschaften des Materials folgen. Dank theoretischer Vorüberlegungen haben Schröter und seine Kooperationspartner gleich zwei chirale Materialien gefunden: In einer ersten Studie untersuchten sie einen speziell gezüchteten Aluminium-Platin-Kristall; in einer zweiten war es ein Palladium-Gallium-Kristall.
Was diese Kristalle zudem auszeichnet: Es handelt sich um topologische Materialien. Die Topologie ist ein Bereich der Mathematik, der sich mit Strukturen und Formen beschäftigt, die in einer bestimmten Eigenschaft einander ähnlich sind. Es geht um die Anzahl Löcher in der Form. Beispielsweise lässt sich aus einem Stück Knete nur durch Drücken und Ziehen eine Kugel, ein Teller oder eine Schüssel formen – all diese Formen haben kein Loch und werden daher topologisch gleich genannt. Um jedoch einen Donut oder eine Acht zu erhalten, muss man Löcher in die Knete stechen und erhält dann topologisch verschiedene Gebilde. Ein Donut beispielsweise besitzt ein Loch, eine Acht zwei.
Diese Einteilung nach der Anzahl der Löcher sowie weitere Eigenschaften der Topologie übertragen Wissenschaftler auf andere physikalische Eigenschaften von Materialien. In der Physik spricht man von einem topologischen Material, wenn es eine andere Anzahl «Löcher» hat als seine Umgebung. Spannend wird es dann an der Oberfläche des Materials: «An unserer Kristalloberfläche muss ein topologischer Phasenübergang passieren. Dadurch ist dort die Anzahl der Löcher nicht eindeutig definiert. Und so passiert hier eine Art neue Physik.» Was Schröter und seine Kollegen dort beobachtet und vermessen haben, nennen sie «topologische Fermi-Bögen.» Es sind die Spuren, die die besonderen Zustände der Elektronen im Material an dessen Oberfläche hinterlassen. «Diese topologischen Oberflächen- oder Randzustände üben eine grosse Faszination auf Physiker aus, weil sie besonders Stabil gegenüber Störungen aus ihrer Umwelt sein können. Die Topologie verleiht ihnen einen besonderen Schutz», erklärt Schröter.
Die höchste Chern-Nummer
In seinem zweiten Projekt hat Schröter in einem Kristall die höchste theoretisch mögliche Anzahl topologischer Löcher nachgewiesen. Diese Zahl, also die Klasse der Topologie, wird in der Physik auch als die Chern-Zahl bezeichnet. Schröter konnte einen chiralen Palladium-Gallium-Kristall vermessen, dessen Chern-Zahl vier beträgt. Und dessen Spiegelbild, bei der die Wendeltreppe im Kristallgitter also anders herum verlief, hatte eine Chern-Zahl von minus vier.
So abgehoben dies alles klingt: Eine geschickte Kombination dieser Oberflächeneffekte könnte die Grundlage für neuartige Quantenbits bilden. «Die Qubits, die heute hauptsächlich erforscht werden, sind nicht sehr stabil. Um mit ihnen nützliche Quantencomputer zu bauen, braucht man darum viele zusätzliche, stabilisierende Quantenbits», erklärt Schröter. «Die Sorte Qubits, die wir hingegen im Sinn haben, würde aus topologischen Randzuständen bestehen und wäre deutlich stabiler. So könnte man schon mit wenigen topologischen Qubits einen Quantencomputer realisieren.» Schröters Stelle am PSI wurde vom Kooperationspartner Microsoft finanziert. «Ziel der Zusammenarbeit mit Microsoft ist es, neuartige topologische Materialien zu entwickeln, aus denen man topologischen Qubits bauen könnte.»
Von Villigen nach Halle
Seit Mai 2021 arbeitet Schröter nicht mehr am PSI in Villigen, sondern hat eine neue Stelle in Deutschland angenommen: am Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik in Halle. «Eigentlich haben Max-Planck-Institute den Auftrag, Grundlagenforschung zu machen. Aber hier in Halle wollen wir das ein bisschen weiter auslegen und auch auf neue Technologien hinarbeiten. Wir wollen die Welt nicht nur verstehen, wir wollen sie auch verändern.» Dafür wird Schröter auch in der Zukunft eng mit dem PSI zusammenarbeiten.