Früherkennung von Krebs möglich machen
Einen entstehenden Tumor in einem sehr frühen Stadium zu erkennen sowie den Erfolg oder Misserfolg einer Krebstherapie engmaschig zu überwachen, ist für das Überleben von Patientinnen und Patienten entscheidend. In beiden Punkten haben Forschende des Paul Scherrer Instituts PSI nun einen Durchbruch erzielt. Eine Gruppe um G.V. Shivashankar, Leiter der Mechano-Genomik am PSI und Professor an der ETH Zürich, konnte belegen, dass Veränderungen in der Organisation des Zellkerns mancher Blutzellen einen sicheren Hinweis auf einen Tumor im Körper liefern können. Mit ihrer Technik – unter Einsatz von künstlicher Intelligenz – konnten die Wissenschaftler Gesunde und Erkrankte mit einer Treffsicherheit von rund 85 Prozent unterscheiden. Ausserdem gelang es ihnen, die Art der Tumor-Erkrankung – Melanom, Gliom oder Kopf-Hals-Tumor – korrekt zu bestimmen. «Das ist das erste Mal weltweit, dass dies jemand geschafft hat», freut sich Shivashankar. Ihre Ergebnisse haben die Forschenden in der Fachzeitschrift npj Precision Oncology veröffentlicht.
Tumorzellen verraten sich selbst
Eine Krebserkrankung im Körper zu erkennen oder deren Therapieverlauf zu überwachen, ist normalerweise sehr aufwendig und erfolgt oft erst in einer späten Phase, wenn die Anzeichen unübersehbar werden. Grundlagenforschende sind deswegen auf der Suche nach Verfahren, die sowohl im klinischen Alltag einfach einzusetzen als auch verlässlich und empfindlich sind. Die Forschungsgruppe um Shivashankar nahm dabei Lymphozyten und Monozyten ins Visier, die in Fachkreisen unter der Bezeichnung mononukleäre Zellen des peripheren Blutes geführt werden. Diese sind über eine einfache Blutprobe leicht zu gewinnen und haben einen im Mikroskop gut sichtbaren, runden Kern. Das dort befindliche Erbmaterial, so die Vermutung der Forschenden, reagiert auf Stoffe in der Blutbahn, die der Tumor abgibt, das sogenannte Sektretom. Dieses aktiviert das sogenannte Chromatin in den Kernen der Blutzellen, verändert also die Organisation der Erbsubstanz darin. Das kann dann wiederum als Indikator oder Biomarker dienen. «Unsere Hypothese war, dass die Blutzellen Tumor-Detektoren darstellen – das hat uns weit gebracht», erklärt Shivashankar.
Künstliche Intelligenz hilft bei der Diagnose
Die Forschenden untersuchten das Chromatin der Blutzellen – so nennt sich die zu einer Art Knäuel verpackte Erbsubstanz DNA – mithilfe der Fluoreszenz-Mikroskopie. Dabei erfassten sie etwa die äussere Textur, die Packungsdichte oder den Kontrast des Chromatins in den Lymphozyten oder Monozyten, zusammen genommen etwa zweihundert Merkmale. Die Mikroskop-Bilder von jeweils gesunden und erkrankten Versuchsteilnehmenden speisten sie in eine künstliche Intelligenz (KI) ein. Dabei nutzen sie die Bedingungen des «supervised learning», die dazu dienen, der Software bekannte Unterschiede beizubringen. Beim folgenden Ansatz des «deep learnings» identifizierte der Algorithmus dann selbst Unterschiede zwischen «gesunden» und «kranken» Zellen, die für den menschlichen Betrachter nicht erkennbar sind.
Die Forschungsgruppe verfolgte drei verschiedene Ansätze. In einer ersten Versuchsreihe untersuchte sie, ob das Verfahren gesunde Kontrollpersonen und Erkrankte voneinander unterscheiden kann. Dazu verglich sie die Blutzellen von zehn Patientinnen und Patienten mit jenen von zehn Gesunden. Die KI konnte gesunde und krebskranke Patienten mit einer Genauigkeit von 85 Prozent unterscheiden. «Selbst die Analyse nur einer einzigen beliebigen Zelle erfolgte noch mit einer sehr hohen Genauigkeit», so Shivashankar. In einem zweiten Ansatz ging es darum, zu ermitteln, ob die KI sogar unterschiedliche Tumorarten unterscheiden kann. Dazu fütterten die Forschenden den Algorithmus mit den Chromatin-Daten der Blutzellen von je zehn Erkrankten mit einem Gliom (Tumor des Stützgewebes der Nervenzellen), einem Meningiom (Tumor der Hirnhaut) und einem Hals-Nasen-Ohrentumor. Auch dieser Versuch erwies sich als erfolgreich. Die Zuordnungen wiesen eine Genauigkeit von mehr als 85 Prozent auf. In einer dritten Fragestellung schliesslich ging es um Patienten, die sich am Zentrum für Protonentherapie ZPT des PSI einer Bestrahlung unterzogen oder unterzogen hatten.
Damien Weber, Leiter und Chefarzt des ZPT sieht in dem diagnostischen Ansatz grosses Potential und bat 150 seiner Patienten um Zustimmung, ihre Blutproben für die Studie auswerten zu dürfen: «Wir erhoffen uns von der neuen Methode, dass sie sowohl Diagnose als auch die Kontrolle des Therapieerfolges verbessern könnten.»
Um den Erfolg der Intervention zu erfassen, wurden die Blutproben vor, während und nach der Strahlentherapie entnommen. Auch hier arbeitete die Software erfolgreich und ordnete die Muster mit einer sehr hohen Genauigkeit richtig zu. Die Behandlung, so die Erwartung, sollte die Konzentration und Zusammensetzung der Tumorsignale im Blut verringern – und so trat es auch ein und das Aussehen der Erbsubstanz der Blutzellen normalisierte sich. «Es war erstaunlich zu beobachten, wie sich die Struktur des Chromatins im Verlauf der Behandlung wieder mehr dem gesunden Muster näherte», zeigte sich Shivashankar zufrieden.
Viele Anwendungen in der Tumordiagnose und -therapie denkbar
Aus Sicht des Biologen und seiner Mitarbeiter ist das neue Verfahren auf Basis des Blutzellen-Chromatins nicht nur auf die untersuchten Tumore anwendbar, sondern auf zahlreiche Krebsarten. Und es könnte nicht nur auf die Verlaufskontrolle der Protonentherapie beschränkt sein, sondern auch auf viele weitere Therapieformen, so etwa bei der Strahlentherapie generell, der Chemotherapie und bei Operationen. Ob das so ist, müssen nun weitere Forschungen belegen. In einer entsprechenden Publikation in der Fachzeitschrift Scientific Reports hat die Gruppe um Shivashankar in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Radiopharmazeutische Wissenschaften (CRS) am PSI bereits getestet, ob die Chromatin-Biomarker zum Aufspüren von strahlen- und chemoresistenten Zellen verwendet werden können. Bis eine Zulassung des Verfahrens durch die Behörden in der klinischen Praxis möglich ist, bleibt noch viel Arbeit zu tun – vor allem Studien mit einer grösseren Zahl an Teilnehmenden, um abzuklären, wie hoch unter klinischen Bedingungen die Zahl der falschen positiven Alarme sowie die falschen negativen Aussagen sind. Dass der Weg in die klinische Anwendung vorgezeichnet ist und Patienten von dem Verfahren profitieren werden, steht für Shivashankar ausser Zweifel. «Die Methode steht!», sagt er.