Orangen-Zwilling gegen Food Waste
Auf dem Weg vom Produktionsort auf den Teller der Konsumentinnen und Konsumenten verdirbt etwa ein Drittel aller Lebensmittel weltweit. Ein Grund sind ungünstige Lagerungsbedingungen entlang von Produktions- und Lieferketten bis hin zur suboptimalen Aufbewahrung zuhause. Forschende der «Biomimetical Membranes and Textiles»-Labors der Empa in St. Gallen arbeiten seit längerem an digitalen Lösungen, mit denen dieser «Food Waste» reduziert werden könnte. Nun hat das Team gemeinsam mit Forschenden der Universität Bern und der südafrikanischen «Stellenbosch University» digitale Zwillinge von Zitrusfrüchten entwickelt und die Ergebnisse im Fachmagazin «Nature Food» publiziert.
Teller statt Tonne
Zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen gehören auch Ernährungssicherheit und eine nachhaltige Landwirtschaft. Die Welternährungsorganisation FAO sieht denn auch nachhaltige digitale Lösungen und Innovationen als ein Mittel, diese Ziele zu erreichen. Das Team um Chandrima Shrivastava und Thijs Defraeye baut bei den virtuellen Doppelgängern von Zitrusfrüchten nun auf digitale Informationen, die sie durch «Upcycling», also ein Aufwerten von kaum genutzten Daten, ermitteln konnten. «Jeder Container auf der Welt ist mittlerweile mit einem oder mehreren Temperatursensoren ausgestattet», erklärt Empa-Forscher Defraeye. Bisher seien jedoch die vielfältigen Informationen, die in diesen Messwerten verborgen seien, nicht verwertet worden.
Mittels mathematischen Auswertungen der physikalischen Prozesse konnte das Team die Datensätze dazu nutzen, entscheidende Eigenschaften der Früchte im Zeitverlauf zu verfolgen und dadurch Qualitätseinbussen und Vermarktungsprobleme aufzuzeigen und sogar vorherzusagen. Hierzu hatten die Forschenden die Temperaturentwicklung in 47 Containerladungen mit Zitrusfrüchten über den gesamten Transportweg hinweg verfolgt und hierdurch bei den digitalen Zwillingen die Wahrscheinlichkeit von entsprechenden Schäden wie etwa Austrocknung, Verschimmeln oder Verrotten oder erwünschte Veränderungen wie die Sterberate von Fruchtfliegen-Larven anhand von Computersimulationen ermittelt.
Heraus kam eine grosse Bandbreite an Transportbedingungen und entsprechenden Qualitätseinbussen. «In unserer Studie lagen die Hälfte aller Lieferungen ausserhalb der idealen Bedingungen für den Transport», so Defraeye. Die Folgen: Fäulnis, Kälteschäden, verdorbene Ware. Am Ende ihrer rund 30-tägigen Reise waren die verbliebenen Zitrusfrüchte im Haushalt schliesslich teilweise nur noch wenige Tage haltbar.
Optimale Bedingungen
Die Lösung des Problems liegt jedoch nicht einfach in einer stärkeren Kühlung der Lebensmittel. Vielmehr ist eine präzise Einstellung der Transportbedingungen in Form eines Kompromisses nötig. Denn reist die Zitrone beispielsweise zu kühl, werden zwar Schädlinge wie Fruchtfliegen oder andere Qualitätseinbussen im Zaum gehalten. Dafür entstehen aber Kälteschäden an den Früchten, was sie unter Umständen unverkäuflich macht.
Anhand der digitalen Zwillinge konnte das Team nun optimale Bedingungen bestimmen, in denen relevante Risiken wie etwa Fliegenbefall, optische Mängel und Kälteschäden gegeneinander abgewogen sind. Noch sind weitere Entwicklungen bis zur Anwendung nötig, doch das Ziel ist klar: Entlang der Produktions- und Lieferketten sollen Unternehmen die virtuellen Früchte in ihre Prozesse einbinden können, um die Lagerungsbedingungen in der Realität zu optimieren und Lebensmittelverluste zu mindern.
Fruchtspione auf Reisen
Empa-Forschende arbeiten zudem an biophysikalischen Zwillingen von Früchten und Gemüse, um Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Die Eigenschaften der Feldfrüchte werden hierbei von den Polymer-Modellen perfekt simuliert. Zudem sind die biophysikalischen Zwillinge mit Sensoren ausgestattet, die die Temperatur und den Feuchtegehalt messen, wie sie an der Schale und im Fruchtfleisch der echten Nahrungsmittel herrschen. So meldet der «Spion» unter den Produkten präzise Daten um die Bedingungen bei Lagerung und Transport zu optimieren – anders als herkömmliche Messmethoden.
Zuletzt haben die Forschenden das Sortiment der Sensorfrüchte Apfel und Mango um Kartoffeln und Avocados in verschiedenen Grössen erweitert sowie Materialien und Herstellungsprozess verbessert.