Gletscherschwund historisch
Die Gletscher schmelzen rasch ab - seit den 2000er Jahren erfassen und erforschen Wissenschaftler:innen die Volumenänderung immer genauer. Wie sich die Gletscher im 20. Jahrhundert verändert haben, ist hingegen kaum bekannt. Zwar gibt es wenige Studien, welche einzelne Gletscheroberflächen des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert rekonstruieren, aber diese zeigen teilweise eine grosse Diskrepanz zu bestehenden Modellen, wenn es darum geht, das entsprechende Gletschervolumen zu schätzen.
In einer aktuellen Studie, die soeben in der Fachzeitschrift The Cryosphere erschienen ist, rekonstruierte nun ein Team von Forschenden der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald Schnee und Landschaft WSL für das Jahr 1931 die Topographie aller Schweizer Gletscher. Aufgrund dieser Rekonstruktionen und Vergleichen mit Daten aus den 2000er Jahren kommen die Forschenden zum Schluss, dass sich das Gletschervolumen zwischen 1931 und 2016 halbiert hat.
Alte Daten – neue Erkenntnisse
Für ihre Rekonstruktion nutzten die Gletscherforscher:innen die sogenannte Stereo-Photogrammetrie. Damit kann anhand von Bildpaaren die Beschaffenheit, Form und Lage beliebiger Objekte bestimmt werden kann. Diese Technik hat in der Schweiz eine lange Tradition. Vom Ersten Weltkrieg bis Ende der 1940er Jahre haben Ingenieure der Landesvermessung – heute Swisstopo – grosse Teile der Schweizer Alpen von rund 7000 Standorten aus fotografiert und mittels sogenannten Phototheodoliten (einer Mischung aus Photoapparat und Winkelmessgerät) vermessen.
Dabei entstanden Bilder auf Glasplatten, welche Swisstopo digitalisiert, mit Metadaten aus Feldbüchern angereichert hat und heute im «TerrA»-Bildarchiv der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Auch die Forschenden nutzten das Material aus diesem Bildarchiv, das etwa 86% der vergletscherten Fläche der Schweiz abdeckt. Sie analysierten dabei rund 21’700 Photographien, die zwischen 1916 und1947 aufgenommen wurden. «Basierend auf diesen Fotos haben wir die Gletscheroberfläche ermittelt. Kennen wir die Oberfläche eines Gletschers zu zwei verschiedenen Zeitpunkten, können wir daraus die Volumendifferenz berechnen», erklärt Erstautor Erik Schytt Mannerfelt von der ETH Zürich und der WSL. Da die Bilder in unterschiedlichen Jahren entstanden sind, haben sich die Forschenden dann für das mittlere Jahr 1931 als Referenz entschieden und alle Gletscheroberflächen für dieses Jahr rekonstruiert.
Nicht alle Gletscher unter Beobachtung
Bisher basiert das Bild der Gletscherveränderungen während des letzten Jahrhunderts weitgehend auf einer Kombination aus langfristigen Gletscherbeobachtungen und -messungen im Feld und anhand von Luftbildaufnahmen aus den Jahren nach 1960. Aus diesen Informationen rekonstruierten Gletscherforscher:innen die Massenbilanz einzelner Gletscher. Die Massenbilanz bezeichnet die Differenz zwischen Massengewinn und Massenverlust und wird unter anderem auch durch Messungen vor Ort ermittelt.
Doch regelmässige Messungen wurden nur bei wenigen Schweizer Gletschern – beispielsweise beim Claridenfirn – durchgeführt. Lange Zeitreihen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken, sind daher sehr selten. Zudem haben ältere Massenbilanzreihen den Nachteil, dass sich die Fehler von früheren, ungenauen oder unsicheren Messungen kumulieren und es so zu grösseren Verzerrungen kommen kann.
Nicht alle Gletscher gleich betroffen
Aus der Studie geht weiter hervor, dass nicht alle Gletscher gleich vom Schwund betroffen sind. Wie stark sich das Volumen verringert hat, hängt im Wesentlichen von drei Faktoren ab: Erstens auf welcher Höhe sich die Gletscher befinden, zweitens wie flach die Gletscherzunge ausläuft und drittens wie stark die Gletscher mit Schutt bedeckt ist.
Sind die Gletscher also jedes Jahr nur geschmolzen? Nein, das Klima im 20. Jahrhundert war zwar generell ungünstig für Gletscher, aber in den 1920er und 1980er Jahren wuchs die Masse auch wieder vereinzelt und es kam zu einzelnen Gletschervorstössen. «Auch wenn es über kürzere Zeiträume zu einem Zuwachs kam, ist es trotzdem wichtig, das Gesamtbild im Auge zu behalten. Unser Vergleich zwischen den Jahren 1931 und 2016 zeigt deutlich, dass es in diesem Zeitraum einen markanten Gletscherschwund gab», erklärt Daniel Farinotti, Professor für Glaziologie an der ETH Zürich und Mitautor der Studie. Zudem nimmt das Gletschervolumen immer schneller ab, wie das von der ETH Zürich geleitete Gletschermessnetz Glamos eindrücklich belegt. Zum Vergleich: Während die Gletscher die Hälfte ihres Volumens zwischen 1931 und 2016 eingebüsst zu haben, haben sie seit 2016 bis heute – also in nur 6 Jahren – zusätzlich rund 12 Prozent verloren.
«Der Gletscherschwund beschleunigt sich. Diesen genau zu beobachten und dessen historischen Dimensionen zu quantifizieren, ist wichtig, weil sich dadurch die Reaktionen der Gletscher auf ein veränderndes Klima ableiten lässt. Solche Informationen sind notwendig, um verlässliche Gletscherszenarien für die Zukunft zu entwickeln», so Farinotti.