Premiere: Protonentherapie gegen Lungenkrebs
Lungenkrebs ist in der Schweiz die tödlichste Krebsart und eine der häufigsten: Etwa 4500 Patienten erkranken jährlich daran. Die gängige Behandlung besteht in einer Operation. Bei fortgeschrittenen Tumoren folgen darauf Chemotherapie und Bestrahlung mit Röntgenstrahlen, manchmal Immuntherapie. Doch nicht alle Tumore in der Lunge lassen sich durch eine Operation entfernen. Forschende versuchen deshalb intensiv, die nicht-operativen Behandlungsmethoden zu verbessern. Für Patienten in der Schweiz ist am Paul Scherrer Institut PSI jetzt eine neue Option hinzugekommen: Bestrahlung mit Protonen. Damit wollen PSI-Forschende die Überlebenszeit für die Patienten auch ohne Tumorentfernung verlängern und strahlentherapiebedingte Nebenwirkungen am Herz sowie Lungenentzündungen vermindern.
«Im Rahmen einer internationalen Phase-3-Studie haben wir heute die erste Patientin mit Lungenkrebs, genauer einem nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom, mittels Protonentherapie behandelt», sagt Damien Weber, der Chefarzt und Leiter des Protonentherapiezentrums am PSI. «Die Patientin hat einen Tumor im fortgeschrittenen Stadium, der nicht operiert werden konnte.» Die Studie wird von der amerikanischen Organisation für klinische Studien NRG Oncology geleitet. Das PSI nimmt gemeinsam mit dem Radio-Onkologie-Zentrum der Kantonsspitäler Aarau (KSA) und Baden (KSB) an der Studie teil – als einzige Einrichtungen ausserhalb der USA. Die Studie vergleicht den Behandlungserfolg von herkömmlicher Strahlentherapie mit der von Protonentherapie beim nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom – der häufigsten Form von Lungenkrebs – im fortgeschrittenen, inoperablen Stadium.
«Dass unser Radio-Onkologie-Zentrum und das PSI an der Studie mitwirken dürfen, ist nur aufgrund der langjährigen Expertise unserer beiden Einrichtungen auf dem Gebiet der Strahlentherapie und unserer Mitgliedschaft bei NRG Oncology möglich», sagt Oliver Riesterer, der Chefarzt des Radio-Onkologie-Zentrums Aarau und Baden. «Wir können unseren Krebspatienten hier eine einzigartige Möglichkeit anbieten: die Teilnahme an der ersten Studie in der Schweiz, die Protonentherapie und herkömmliche Strahlentherapie randomisiert vergleicht.» Die Zuteilung der Patienten erfolgt per Losverfahren: Einige werden mit Protonen am PSI bestrahlt, andere wie bisher mit Röntgenstrahlen am Radio-Onkologie-Zentrum KSA-KSB. «Da wir die modernsten Geräte haben, die es derzeit für die klassische Strahlentherapie gibt, vergleichen wir das Beste mit dem Besten», freut sich Riesterer über den Studienstart.
Der feine Unterschied
Beide Bestrahlungsarten schädigen die Erbsubstanz in den Tumorzellen und töten sie damit ab – den Unterschied könnten ihre physikalischen Eigenschaften machen: Die klassische Strahlentherapie verwendet Röntgenstrahlen, also Photonen, die Protonentherapie dagegen geladene Teilchen. Die Röntgenstrahlen lassen sich zwar heutzutage sehr präzise auf den Tumor fokussieren, aber Photonen streuen auch in das umgebende, gesunde Gewebe und schädigen es – je höher die Strahlendosis ist, desto mehr. Demgegenüber haben Protonenstrahlen eine viel höhere Präzision. Mit der am PSI entwickelten Spot-Scanning-Bestrahlungstechnik wird ein bleistiftdünner Teilchenstrahl aus Protonen auf den Tumor gerichtet und tastet ihn von hinten nach vorne in seinem ganzen Volumen ab. Dabei deponieren die Protonen fast ihre gesamte Energie direkt im Tumor und zerstören so die Krebszellen. Im gesunden Gewebe vor dem Tumor kommt nur eine sehr geringe Dosis an, und das Gewebe hinter dem Tumor erhält keine mehr, weil die Strahlung – im Gegensatz zur Photonenstrahlung – durch das Tumorgewebe abgebremst wird. So ist die Strahlenbelastung des gesunden Gewebes viel geringer.
«Rein von den physikalischen Eigenschaften her erwarten wir, dass die Protonentherapie besser ist», sagt Weber. Der Arzt erinnert sich an eine jugendliche Patientin, welche er aufgrund dieser theoretischen Überlegungen bereits vor einigen Jahren am PSI mit Protonentherapie im Bereich der Lunge behandelt hat: «Die Resultate bei ihr waren sehr gut. Ob aber alle Patienten gleichermassen von Protonentherapie profitieren, konnte bisher noch nicht sicher gezeigt werden. Der Grund dafür ist das Fehlen qualitativ hochwertiger, klinischer Studien, die beide Verfahren direkt miteinander vergleichen.» Wenn solche Studien aussagekräftig sein sollen, müssen Patienten nach dem Zufallsprinzip entweder der klassischen Röntgenbestrahlung oder der Protonentherapie zugeteilt werden. Nur dann lässt sich der Einfluss anderer Faktoren minimieren. Diese sogenannten randomisierten Studien sind aber sehr aufwendig und teuer. In der Onkologie werden sie deshalb fast immer in mehreren grossen Einrichtungen durchgeführt, die hohe Qualitätstandards haben und viele Patienten behandeln.
Bevor die Studie überhaupt starten durfte, musste sich das PSI – wie alle teilnehmenden Einrichtungen einschliesslich dem Radio-Onkologie-Zentrum der beiden Kantonsspitäler – aufwendig durch das von NRG Oncology beauftragte M.D. Anderson Cancer Center in Houston akkreditieren lassen. «Um die Daten vergleichen zu können, muss man sicherstellen, dass alle Patienten in allen 30 Studienzentren auf dieselbe Weise und mit der gleichen Qualität behandelt werden», erklärt der Radioonkologe Dominic Leiser vom PSI. «So mussten wir unter anderem nachweisen, dass wir einen Tumor in einer Patienten-Attrappe bis auf zwei Millimeter genau treffen und dass dort auch genau die Dosis ankommt, die wir vorher berechnet haben.» Für die geforderte Qualitätskontrolle hat das PSI-Team Bestrahlungen an sogenannten Phantomen durchgeführt. Diese Messattrappen haben eingebaute Dosis-Messgeräte und ahmen die Eigenschaften eines echten Patienten nach, sogar die Lungenbewegung kann simuliert werden.
Ein grosser Schritt für die Protonentherapie
Mit der Protonenbestrahlung eines Patienten mit Lungenkrebs wird am PSI das nächste Kapitel der Protonentherapie aufgeschlagen. Während sich die Protonentherapie bei bestimmten Tumoren im Kopf- und Halsbereich sowie am Körperstamm bereits etabliert hat, sind Tumore in der Lunge noch Neuland. Sie sind aufgrund der Bewegung durch die Atmung besonders schwer mit Protonen zu bestrahlen. Mit jedem Atemzug verändern sie ihre Lage um bis zu zwei Zentimeter. «Wir müssen sicherstellen, dass der Protonenstrahl trotz der Atembewegung den gesamten Tumor abtastet», erklärt Leiser. «Dafür arbeiten wir mit einem Trick, dem sogenannten Rescanning. Hierbei wird der Tumor und ein Bereich darum herum mehrmals mit dem Strahl abgetastet. Doch damit wird manchmal auch mehr gesundes Lungengewebe mitgetroffen als nötig.» Um das zu vermeiden, haben die Forschenden am PSI einen zweiten Trick: nur in der Ausatmungsphase bestrahlen. Dafür machen sie vor Bestrahlungsbeginn ein Computertomogramm (CT), das alle Phasen der Ein- und Ausatmung aufnimmt. Dem Patienten wird ein zwei Franken grosser Marker auf den Brustkorb geklebt. Dieser Marker bewegt sich beim Atmen mit und ist im CT zu sehen. Während der eigentlichen Protonenbestrahlung wird dann die Position des Markers von einer speziellen Videokamera überwacht. Sobald anhand des Markers zu erkennen ist, dass der Patient genügend ausgeatmet hat, wird bestrahlt. Bei Einatmung hingegen wird der Protonenstrahl gestoppt. «Diese Technik ist sehr komfortabel für Patienten, denn sie können einfach ganz normal atmen während der Therapie», sagt Leiser.
Insgesamt sollen in die Studie 330 Patienten eingeschlossen werden, etwa zehn davon in der Schweiz. «Die Zusammenarbeit unserer beiden Institutionen ist ein Meilenstein für die Krebspatienten im Kanton Aargau», sagt Weber. Auch in anderen Projekten wollen die beiden Einrichtungen künftig enger zusammenarbeiten. Riesterer betont: «Unser Ziel ist es, Photonen- und Protonentherapie bestmöglich zum Wohle unserer Patienten einzusetzen.»