Umkämpfte Ressource
Die Schweiz ohne Wasserkraft, sie wäre schwach und lahm. 1500 Lauf- und Speicherwasserkraftwerke verstreut über das gesamte Land liefern heute mithilfe von Turbinen und Generatoren rund 60 Prozent der nationalen Elektrizität. Und in Zukunft dürfte die Wasserkraft noch wichtiger werden: «Der Anteil Strom am schweizerischen Gesamtenergiemix wird bis 2050 von heute 27 Prozent auf 38 bis 46 Prozent ansteigen», sagt Robert Boes, Professor für Wasserbau an der ETH Zürich. Dies, weil fossile Energien für eine erfolgreiche Energiewende ersetzt und immer mehr Nutzungen elektrifiziert werden, zum Beispiel Individualverkehr. Hinzu kommt, dass das letzte Schweizer Atomkraftwerk in gut zehn Jahren vom Netz gehen soll. Photovoltaik, Windenergie und Wasserkraft müssen entsprechend ausgebaut werden. Stauseen haben den Vorteil, dass sie auch grosse Mengen Energie über längere Zeiträume effizient speichern können. Das ist besonders für die sonnenarmen Wintermonate zentral.
Aus- und Neubauten kombinieren
«Die Speicherkraft des Wassers ist für die Energiewende in der Schweiz ein grosser Trumpf», ist Robert Boes überzeugt. Seine Forschungsgruppe hat in den letzten Jahren intensiv zum Potenzial des Aus- und Neubaus von Stauseen in der Schweiz geforscht. 2020 berechnete sie, wie viel Strom zusätzlich produziert werden könnte, wenn die Talsperren von 38 bestehenden Speicherseen in den Schweizer Alpen mit einem Nutzvolumen von mindestens 20 Millionen Kubikmeter Wasser um 5, 10 oder 20 Prozent erhöht würden. Die Forschenden bewerteten das Potenzial anhand von acht Kriterien, darunter die Auswirkung auf Schutzgebiete und bestehende Infrastrukturen und die Möglichkeit zur Umlagerung der Stromverfügbarkeit in den Winter. Das Ergebnis: Wenn 17 bis 26 der untersuchten Stauseen ausgebaut würden, könnten 2,2 bis 2,9 Terawattstunden (TWh) Strom pro Jahr zusätzlich vom Sommer- in das kritische Winterhalbjahr umgelagert werden. Damit könnte die Elektrizitätsproduktion im Winterhalbjahr durch Wasserkraft von aktuell 48 Prozent auf bis zu 62 Prozent der Jahresproduktion gesteigert werden.
Boes‘ Gruppe berechnete auch das Potenzial von Neubauten in 62 zuvor identifizierten Gletscherrückzugsgebieten. Da, wo einst grosse Eismassen lagen, entstehen bald neue, natürliche Seen oder freie Gebiete, die für Stauseen genutzt werden können. «Beim Triftgletscher im Kanton Bern zum Beispiel hat sich das Eis in nur zehn Jahren so weit zurückgezogen, dass der See schon heute für die Stromproduktion genutzt werden könnte», erzählt Boes. Im Umfeld solcher neu geformter Gletscherseen gibt es oft nur wenig bestehende Infrastrukturen und die frei werdenden Flächen stehen in der Mehrzahl der Fälle nicht unter Schutz. Boes‘ Analyse zeigt, dass neue Wasserkraftwerke an den zwölf am besten dafür geeigneten Orten unter Berücksichtigung von Biotopen nationaler Bedeutung 1 bis 1,2 TWh Strom pro Jahr durch natürlichen Zufluss produzieren. Werden die bereits gebauten Wasserkraftwerke flussabwärts mitberücksichtigt, können weitere 1,4 bis 1,5 TWh gewonnen werden.
Die Potenzialstudien von Boes‘ Forschungsgruppe waren eine zentrale Grundlage für die Diskussionen des «Runden Tischs Wasserkraft», zu dem der Bund Umweltorganisationen, Betreiber von Wasserkraftwerken, Kantons- und Bundesbehörden im August 2020 eingeladen hatte. Die Teilnehmenden diskutierten, wie das Ziel von zusätzlichen 2 TWh Winterstrom bis 2040 produziert werden könnte: Elf bestehende Stauseen sollen dafür ausgebaut werden, darunter der Grimselstausee im Kanton Bern und der Mattmarksee im Wallis. Zusätzlich wurden vier neue Stauseen vorgeschlagen. «Das Kernstück der Strategie ist der Stausee beim Gornergletscher, der die Speicherkapazität um 650 Gigawattstunden (GWh) und die jährliche Energieerzeugung um 200 GWh pro Jahr erhöhen könnte», erklärt Boes. «Doch Neubauten sind viel umstrittener als Ausbauten von bestehenden Stauseen.» Sie sorgten auch beim runden Tisch für Kritik: Die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz weigerte sich, die Schlusserklärung zu unterzeichnen. Unter anderem, weil der Bau eines Gornerstausees weitreichende Auswirkungen auf eines der letzten unberührten Eisgebirge hätte, das im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung vermerkt ist. Einmal mehr zeigte sich: Der Ausbau der Wasserkraft – so sinnvoll dieser im Hinblick auf die Klimaziele ist – birgt immer auch Zielkonflikte.
Interessen ausbalancieren
Jemand, der sich seit Jahren mit solchen Zielkonflikten auseinandersetzt, ist Paolo Burlando, Professor für Hydrologie und Wasserwirtschaft an der ETH Zürich. «Wasserkraftprojekte führen immer zu einer Fragmentierung von Flüssen und haben damit auch Auswirkungen auf die umliegenden Ökosysteme.» Er nennt ein Beispiel aus seiner eigenen Forschung: Die Kafue-Ebene in Zambia ist eine 240 km lange und 50 km breite Fläche mit Sümpfen, offenen Lagunen und saisonal überfluteten Gebieten. Die Ebene wird vom Fluss Kafue, ein Zufluss des Sambesi, mit Wasser gespeist. Sie ist ein wichtiges Habitat für Antilopen, Zebras, Nilpferde und 450 gefährdete Vogelarten. Seit dem Bau von zwei grossen Staudämmen in den 1970er-Jahren ist die Fläche jedoch immer seltener überflutet, mit negativen Folgen für die Biodiversität. Wie also die Notwendigkeit der Stromproduktion gegenüber dem Schutz der Ökosysteme gewichten?
Zur Beantwortung solcher Fragen entwickeln Burlando und sein Team mathematische Modelle für die integrierte und partizipative Bewirtschaftung von Wasserressourcen. Durch die Simulation von Szenarien sollen Zielkonflikte zwischen Naturschutz, Energieproduktion, Wirtschaftlichkeit und Wasserverfügbarkeit für die Landwirtschaft reduziert werden. Im Rahmen des EU-Projekts «DAFNE» konnte Burlando ein solches Modell in Zusammenarbeit mit dreizehn Forschungspartnern aus Europa und Afrika sowie Behörden und Kraftwerkbetreibern an zwei konkreten Fallbeispielen testen: dem Wassereinzugsgebiet des Sambesi im südlichen Afrika und demjenigen des Flusses Omo zwischen Äthiopien und Kenia. Schlüsselindikatoren für die Modellierung waren unter anderem die Einnahmen von Wasserkraftunternehmen, die verfügbare Wassermenge für landwirtschaftliche Bewässerung, Abweichungen von der natürlichen Überflutung von empfindlichen Ökosystemen oder Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Trinkwasser. Auch Simulationen der klimatischen Veränderungen flossen mit ein. Im Fall des Sambesi konnten die Forschenden zeigen, dass allein durch eine bessere Koordination der Staudammbetreiber über nationale Grenzen hinweg die Stromproduktion um 20 Prozent erhöht werden könnte. Und dies ohne zusätzliche negative Auswirkungen auf die Ökosysteme.
Mit dem zweiten Fallbeispiel, Omo-Turkana, widmete sich das DAFNE-Team einem politischen Brennpunkt. Äthiopien hat in den letzten Jahren am Fluss Omo gleich drei Staudämme gebaut und will das Wasser für grossflächigen Zuckerrohranbau im Süden nutzen. Zugleich ist der Omo die einzige Quelle des Turkana-Sees, der praktisch vollumfänglich in Kenia liegt und von dessen Wasser tausende von Nomaden und deren Nutztiere abhängig sind. «Unsere Modellierungen haben gezeigt, dass die Stromproduktion in Äthiopien die Wasserverfügbarkeit in Kenia langfristig nicht einschränkt, höchstens temporär», erklärt Burlando. «Viel risikobehafteter ist hingegen die Wasserentnahme für landwirtschaftliche Grossprojekte.» Für die Stromproduktion wird das Wasser lediglich gespeichert und durch Turbinen geleitet, was zwar den natürlichen Flussverlauf und die aquatischen Ökosysteme verändert, aber keine Auswirkungen auf die Gesamtmenge des Wassers hat – anders als bei der Bewässerung. Zu einer Lösung des Konflikts oder einer institutionalisierten Koordination kam es nicht. «Doch schon allein, dass die beiden Länder auf Ebene der technischen Dienste gemeinsam an einem Tisch sassen und miteinander über konkrete Management-Szenarien und Lösungen für Nutzungskonflikte diskutierten, war für uns ein Erfolg.»
Bessere Koordination
Im EU-Folgeprojekt «GoNEXUS» sollen die Erfahrungen aus DAFNE nun nicht nur auf der Skala von Wassereinzugsgebieten, sondern auch für den kontinentalen und sogar globalen Massstab angewendet werden. Dafür werden bis 2025 acht Fallbeispiele in Europa und Afrika bearbeitet, mit besonderem Fokus auf die Abhängigkeiten zwischen Wasser, Ernährung, Energie und Ökosysteme. Burlandos Forschung ist aber auch für die Schweiz und deren Energiestrategie wertvoll. Im Rahmen des «Swiss Competence Center for Energy Research» hat der Forscher unter anderem Modellierungen für das Maggia-Flusssystem im Tessin mit vier Staumauern und mehreren Pumpspeicherkraftwerken durchgeführt. «Wir konnten für die Maggia zeigen, dass sich die Stromproduktion erhöhen liesse, wenn das Ablassen der gesetzlich geforderten Restwassermengen aus den Stauseen besser koordiniert würde.»
Burlando ist sich durchaus bewusst, dass für die praktische Umsetzung eines integrierten Wassermanagements die technisch-wissenschaftliche Expertise allein nicht ausreicht. Es brauche auch den politischen Willen dafür. Er ist jedoch überzeugt, dass die Politik gut beraten wäre, den Ingenieurinnen und Ingenieuren manchmal etwas besser zuzuhören. «Wir können durchaus helfen, Kompromisse zu finden, die im öffentlichen Interesse liegen.»