Der neue Goldstandard?
Wer einen sogenannten Goldstandard, der sich seit Jahrzehnten bewährt hat, verändern will, benötigt überzeugende Argumente. In der Siedlungswasserwirtschaft lautet dieser Goldstandard: Das Abwasser aus Haushalten und Gewerbe wird über eine Kanalisation gesammelt – seit den 1960er-Jahren meist in zentralen Kläranlagen – und dann gereinigt in die Umwelt zurückgegeben. Die Erfindung der Kanalisation hat es erst ermöglicht, dass der Mensch in städtischen Ballungen über die Zeit hygienische Verhältnisse herstellen konnte. Warum ein solches System verändern?
Professor Bernhard Truffer ist Gruppenleiter in der Forschungsabteilung Umweltsozialwissenschaften an der Eawag und beschäftigt sich mit Innovations- und Industriedynamiken im Bereich nachhaltiger Technologien. Er hat eine überzeugende Antwort: Der Mensch produziert durchschnittlich einen Liter Urin pro Tag und darin befinden sich grosse Mengen an Stickstoff oder Phosphor. Dieser Liter Urin wird dann mit den 150 Litern des übrigen Haushaltsabwassers verdünnt über die Kanalisation etliche Kilometer in eine zentrale Kläranlage transportiert und dort aufbereitet. «Im Grunde ist dies ein sehr ineffizientes System», sagt er, «die Rohrleitungssysteme sind weitläufig, der Wasserverbrauch hoch.» Der Forscher plädiert stattdessen situativ für eine dezentrale Abwasseraufbereitung und für eine Modularisierung der Wasserinfrastrukturen in der Schweiz. «Dezentrale Anlagen benötigen weniger Rohre und weniger Wasser, sofern der Prozess der Wiederaufbereitung über einen Wasserkreislauf getätigt wird.»
Das klingt einleuchtend. «Zumal neue smarte Technologien in absehbarer Zeit funktionsfähige und kostengünstige modulare Systeme zur Abwasserreinigung hervorbringen werden», ist Professor Max Maurer, Gruppenleiter in der Forschungsabteilung Siedlungswasserwirtschaft an der Eawag überzeugt.
Das Problem liegt freilich meist in den Köpfen der für die Wasseraufbereitung zuständigen Expertinnen und Experten, die im zentralen System gross geworden sind. Sie müssen heute Entscheide über Investitionen in Wasserinfrastrukturen fällen, die über eine Lebenszeit der Anlagen von bis zu 80 Jahren Bestand haben. So besteht zumindest theoretisch die Gefahr von Fehlallokationen finanzieller Mittel, wenn auf technologische Innovationen in Richtung modularer und dezentraler Abwassersysteme nicht rechtzeitig reagiert wird.
Um hier einen Wissenstransfer über die zukünftige Rolle modularer Abwassersysteme in die Praxis anzustossen, haben Truffer und Maurer im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 73 die Leitung des sogenannten Comix-Projekts übernommen, das für «Challenges and Opportunities of Modular water infrastructures for Greening the Swiss economy» steht.
Es ist ein interdisziplinäres Projekt: Die Institutionen des ETH-Bereichs verfügen seit Jahren über eine global anerkannte Expertise in allen Fragen der Wasserwirtschaft. So sind in das ComixProjekt auch Forschende der ETH Zürich eingebunden, das Schweizer Beratungsbüro Ecoplan sowie Entscheidungsträger der Schweizer Siedlungswasserwirtschaft bei Bund, Kantonen, Gemeinden und auch Fachverbänden.
Es geht um die ganz grosse Frage: Sollen und können die heute praktisch ausschliesslich zentral organisierten Wasserinfrastrukturen zukünftig hybrid und modular aufgestellt werden? Diese Frage wurde auch in Workshops mit allen Beteiligten diskutiert. «Zu Beginn wurden vor allem Barrieren identifiziert», erklärt Truffer, «welche die Einführung dezentraler Abwassersysteme in der Schweiz weitgehend verhindern oder allenfalls nur in peripheren Randgebieten realistisch erscheinen lassen.»
Die Zukunft der Schweiz mit einem hybriden Abwassersystem
Je stärker jedoch der ganzheitliche Blick obsiegte, desto stärker setzte ein Umschwung in der Beurteilung ein. Dezentrale Systeme können selbst in urbanen Gebieten sinnvoll sein, sofern eine Verbindung von Wasser- und Energieinfrastrukturen mit neuartiger Architektur – etwa zur Kühlung von Innenstädten – zu integrierten Ansätzen führt oder wenn beispielsweise bei Neubauten in Industriebrachen das Wassermanagement auf eine autonome Kreislaufwirtschaft ausgerichtet wird. «Damit», sind Truffer und Maurer überzeugt, «kann der Anteil dezentraler Abwasseraufbereitung langfristig von heute 2,5% auf 50% gesteigert werden.» In einem solch hybriden Abwassersystem sehen die Forscher die Schweiz der Zukunft, und in ein solches sollten Neuinvestitionen von heute zumindest teilweise bereits fliessen.