60 Jahre Hotlabor
Modernste materialanalytische Methoden lassen tief Blicken und Fehler oder Unebenheiten in Werkstoffen teilweise zerstörungsfrei identifizieren. Doch was, wenn es sich bei dem zu untersuchenden Objekt nicht um gewöhnliches Material, sondern um einen hoch radioaktiven Reaktorbrennstab handelt? Dann reicht ein gewöhnlicher Labortisch nicht mehr aus und die Analyse benötigt ein streng geschütztes Umfeld – ein sogenanntes Hotlabor. In speziellen Sicherheitszonen, den sogenannten heissen Zellen, werden hier die radioaktiven Materialien hinter 1,5 Meter Beton und einem Fenster aus 90 Zentimeter dickem Bleiglas mittels Roboterarmen manipuliert und auf ihre Eigenschaften untersucht.
So auch am PSI: Seit 60 Jahren werden im hiesigen Hotlabor komplexe Analysen hoch radioaktiver Materialien durchgeführt. Solche Untersuchungen helfen zu verstehen, wie die Werkstoffe unter den extremen Bedingungen im Reaktor reagieren, wie sie sich verändern und wann ihre Betriebsdauer gen Ende geht. Damit leistet das Labor nebst Grundlagenforschung einen wichtigen Beitrag zum Unterhalt und damit zur Sicherheit der Schweizer Kernanlagen – und das seit ihren Anfängen.
Eine kleine Geschichte der Schweizer Kerntechnik
Die Ursprünge des Hotlabors gehen auf das Jahr 1955 zurück. Unter Federführung der Vereinten Nationen fand damals die erste Atomenergie-Konferenz in Genf statt, mit dem Ziel, die Atomkraft, welche ihre verheerende Wirkung im Krieg offenbart hat, künftig friedlich zu nutzen. Über 1000 Forschende tauschten sich an dieser zweiwöchigen Konferenz aus – damit wuchs auch das Interesse der Schweiz an dieser neuartigen Energiequelle.
Die im März 1955 in Würenlingen gegründete Reaktor AG nahm sich der Umsetzung dieses Interesses an. Das Privatunternehmen wurde später vom Bund übernommen und zum Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung (EIR) umbenannt, welches schliesslich 1988 mit dem Schweizerischen Institut für Nuklearforschung zum heutigen Paul Scherrer Institut PSI fusionierte.
Bereits 1957 begann die Reaktor AG mit der Planung des Hotlabors. Als das Labor 1963 schliesslich fertiggestellt und eingeweiht worden war, reichte das EIR am 2. November 1964, dem offiziellen Jubiläumsdatum, beim Eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement die Betriebsbewilligung ein.
Neben den beiden Testreaktoren Saphir und Diorit, welche ebenfalls auf dem heutigen PSI-Gelände errichtet wurden, spielte das Hotlabor eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Schweizer Kernkraftwerke. Es stellte den Forschenden die erforderliche Infrastruktur zur Verfügung, um radioaktive Proben aus den Reaktorexperimenten zu analysieren und weiterzuentwickeln – und diese Funktion hat es auch heute noch inne.
Ursprünglich wurden im Hotlabor auch Isotope hergestellt – das sind radioaktive Substanzen, die in der Grundlagenforschung, aber auch in der Radiopharmazie bei der Tumorbekämpfung zum Einsatz kommen. Dieser Bereich wurde jedoch bereits in den 70er-Jahren aus dem Hotlabor ausgegliedert und bildet heute einen eigenen Forschungsbereich am PSI. Auch zur sicheren Entsorgung sowie zur Endlagerung radioaktiver Abfälle zeichnet sich die Forschung am Hotlabor aus. Zudem werden hier die radioaktiven Abfälle weiterverarbeitet, gelagert und entsorgt, welche bei den Untersuchungen anfallen.
Einzigartige Infrastruktur
Das Hotlabor befindet sich in einem komplett abgeschirmten Bereich, der nur via Sicherheitsschleusen zugänglich ist. Meterdicke Beton- und Bleiwände schützen das Personal vor der gefährlichen Strahlung. «Befindet sich kein hoch radioaktives Material im Labor, so haben wir die etwas paradoxe Situation, dass unsere Messgeräte weniger Strahlung detektieren als draussen in der freien Natur, wo wir der natürlichen Hintergrundstrahlung ausgesetzt sind», erklärt Marco Streit, Leiter der Abteilung Hotlabor am PSI. «So effektiv schützen unsere Wände.»
Dabei handelt es sich bei den Aussenwänden bloss um einen Sekundärschutz, der im Falle eines Unfalls den Austritt von radioaktivem Material verhindern soll – die eigentlichen Arbeiten mit den hoch radioaktiven Brennstäben finden nämlich nochmals abgeschirmt hinter 1,5 Meter dicken Betonwänden in den sogenannten Hotzellen statt. In diese heissen Zellen werden die teilweise vier Meter langen Brennstäbe über ein Schleusensystem angeliefert, voruntersucht, zerkleinert und für weitere Analysen in die kleineren bleiabgeschirmten Zellen überführt.
Diese Arbeit geschieht quasi von Hand. «Aber nur indirekt», fügt Streit hinzu. «Die Arbeit mit solch hoch radioaktiven Stoffen kann nur über mechanische Greifarme erfolgen, welche durch unsere Operateure von ausserhalb der Zelle gesteuert werden.» Dabei muss das Personal teilweise mit millimeterkleinen Stücken hantieren – herunterfallen darf da rein gar nichts. «Unsere Leute müssen enormes Fingerspitzengefühl aufweisen – und das, ohne ihre Fingerspitzen direkt zu benutzen.»
Einblick in die Zelle erlaubt ein kleines Fenster, das aus einer Kombination von drei Mal dreissig Zentimeter dicken Bleigläsern besteht. Das charakteristische, grünschimmernde Licht dahinter kommt nicht etwa von der radioaktiven Strahlung, sondern entsteht einerseits durch die Lichtquelle und andererseits durch die Optik der Gläser. «Eine Neonröhre oder LED-Lichter wären in dieser Zelle ein Ding der Unmöglichkeit», so Streit. «Die enorme Strahlung würde sie innerhalb kürzester Zeit zerstören – deshalb verwenden wir Quecksilberdampflampen – ohne Plastikkomponenten oder komplexe Elektronik, damit sie der Strahlung standhalten können. Durch das dicke Bleiglas erscheint uns dieses Licht dann grün.»
Der Strahlung trotzen
Nebst der Lichtquelle muss alles, was in die Hotzelle eingebracht wird, strahlungsresistent sein. «Um die Brennstäbe zu zerkleinern, benutzen wir zum Beispiel eine selbstkonstruierte Kreissäge», erklärt Streit. «Die heutigen kommerziellen Modelle sind viel zu filigran und wären nach wenigen Einsätzen unbrauchbar.» Auch hier liegt das Problem in den vielen Plastikkomponenten und der empfindlichen Elektronik moderner Geräte.
Die enorme Strahlung ist auch der Hauptgrund, weshalb immer noch «von Hand» über die Greifarme manipuliert wird. «Roboterarme, wie sie teilweise in der modernen Chirurgie zum Einsatz kommen, wären natürlich schon eine Erleichterung und werden auch von einem Teil der Hotlab-Community gefordert», so Streit. «Doch um solche Roboter unter diesen Extrembedingungen funktionstüchtig zu halten, müssten sämtliche Kabel, Prozessoren sowie Leiterplatten aufwendig gegen die Strahlung isoliert werden – ein enormer Aufwand.»
Derselbe Schutz muss auch für die Analysegeräte aufgewendet werden, mit welchen die Materialien in den Hotzellen untersucht werden: «Wir verwenden prinzipiell dieselben Geräte, welche auch in der konventionellen Materialanalytik genutzt werden – mit dem Unterschied, dass unsere aufwendig abgeschirmt wurden, sodass sie von den Materialien, die sie untersuchen, nicht geschädigt werden.»
Marco Streit und seinem Team stehen diverse Methoden zur Verfügung, mit welchen die Oberflächen der Brennstäbe in den Hotzellen zerstörungsfrei untersucht werden können. Aber auch zerstörende Methoden, bei denen die zu untersuchende Probe erst zerkleinert werden muss, wie zum Beispiel die Massenspektroskopie zur Charakterisierung der chemischen Zusammensetzung, können strahlungsresistent im Hotlabor durchgeführt werden. Seit 2021 steht den Forschenden auch ein abgeschirmtes Rasterelektronenmikroskop mit einem fokussierten Ionenstrahl zur Verfügung. «Damit schneiden wir Proben im Mikro- und Nanometerbereich aus den hoch radioaktiven Materialien. Diese winzigen Proben weisen kaum noch Strahlung auf, wodurch wir sie ohne Gefahr an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS oder die Schweizer Spallations-Neutronenquelle SINQ mit hochmodernen Bildgebungsverfahren untersuchen können», so der Laborleiter.
Die Zukunft Hotlabor
Das Hotlabor mit seinen modernen Analysemethoden und seiner komplexen Infrastruktur bietet in der Schweiz einzigartige Bedingungen, um hoch radioaktive Werkstoffe sicher und ausführlich zu untersuchen – in der europäischen sowie auch der weltweiten Community geniesst es einen hohen Stellenwert. Während seiner Betriebszeit von 60 Jahren wurde das Labor laufend modernisiert und an die strenger werdenden Sicherheitsstandards angepasst.
Welche genaue Rolle das Labor für die Schweizer Kerntechnik in Zukunft spielen wird, ist noch ungewiss. Für Marco Streit ist der Fall allerdings klar, das Hotlabor wird auch in den kommenden 30 Jahren und darüber hinaus noch seinen Beitrag leisten: «Solange die Kernkraftwerke in der Schweiz in Betrieb sind, wird es auch ein Hotlabor geben – dies nur schon aus Sicherheitsgründen», so der Laborleiter. «Aber auch später, wenn es um den Rückbau und die Endlagerung geht, ist eine solche Infrastruktur von zentraler Bedeutung – denn nur hier lassen sich die gefährlichen Stoffe sicher und präzise untersuchen.»